Rheinische Post Emmerich-Rees

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Schön. Ich bin bereit, Ihnen entgegenzu­kommen. Wie viel können Sie erlegen?“„Allerhöchs­tens hundert Kronen.“„Sie erlegen also hundert Kronen. Fräulein, bestätigen Sie dem Herrn Eiermann – “

„Die hundert Kronen kann ich aber erst in drei Wochen bezahlen.“

„In drei Wochen?“rief Kohout. „Ausgeschlo­ssen. Wieviel können Sie heute, jetzt gleich erlegen?“

Herr Eiermann verzog den Mund, als habe er etwas schlecht Schmeckend­es verschluck­t, und sagte nach einem sichtlich schweren inneren Kampf: „Vielleicht sechzig Kronen.“„Bestätigen Sie dem Herrn Eiermann sechzig Kronen als Spesenvors­chuß, Fräulein, damit wir endlich zu einem Resultat kommen.“

„Ich hab’ aber die sechzig Kronen nicht bei mir“, wandte Herr Eiermann ein.

„Sie haben sie nicht bei sich. Natürlich. Sie wollen also nicht bezahlen?“

„Wer redet von nicht zahlen?“rief Herr Eiermann gekränkt.

„Schön. Sie wollen also bezahlen. Wieviel haben Sie denn eigentlich bei sich, wenn die Frage gestattet ist?“„Weiß ich –? Dreißig Kronen.“„Ein angenehmer Klient! Also zahlen Sie in Gottes Namen dreißig Kronen“, sagte Kohout resigniert.

Herr Eiermann zog eine Lederbrief­tasche von unbestimmb­arer Farbe hervor. Er durchsucht­e umständlic­h ihre Fächer und brachte zwei zerknitter­te Geldnoten zum Vorschein.

Kohout nahm das Geld mit den Fingerspit­zen und warf es in die offene Lade seines Schreibtis­ches. Dann ließ er Herrn Eiermann in das Zimmer des Doktor Eichkatz eintreten.

Doktor Eichkatz saß mit geschlosse­nen Augen an seinem Schreibtis­ch. Er schien erschöpft zu sein. Sein mächtiger kahler Schädel ruhte auf seinen behaarten Fäusten, zwischen seinen schlaffen Lippen hing eine Virginiazi­garre, deren Glut erloschen war. Als Herr Eiermann ins Zimmer trat, kam Leben in die hagere Figur des Rechtsanwa­lts.

„Herr Jonas Eiermann“, meldete Kohout. „Einreise nach Tirol, Innsbruck.“

„Sie wollen also nach Innsbruck, Herr Eiermann“, sagte Doktor Eichkatz. „Was sind Sie für ein Landsmann?“

„Ich bin kein Österreich­er“, erklärte Jonas Eiermann.

„Ich habe Sie nicht gefragt, was Sie nicht sind, ich habe Sie gefragt, was Sie sind“, rief der Rechtsanwa­lt mit dröhnender Stimme. „Sie sind kein Österreich­er, Sie sind auch kein Eskimo, Sie sind kein Mitglied der afrikanisc­hen Völkerfami­lie, kein Mohammedan­er, kein Cowboy, kein englischer Viscount, keine Bajadere. Das alles sind Sie nicht, das weiß ich. Jetzt möchte ich von Ihnen hören, was Sie sind.“

„Ich bin polnischer Staatsange­höriger“, gab Herr Eiermann, völlig eingeschüc­htert, zur Antwort.

„Na also, endlich, Gott sei Dank. Sie sind also polnischer Staatsbürg­er und wollen nach Innsbruck. – Ich danke, Herr Kollege“, sagte Doktor Eichkatz, und Kohout zog sich zurück.

Die Stenotypis­tin hatte ihre Arbeit beendet und aß mit hingebungs­voller Miene ein Käsebrot. Vittorin war aufgestand­en und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab.

„Das sind Klienten, wie?“seufzte Kohout. „Ein Vergnügen, mit dem Herrn Eiermann zu verhandeln. Der Doktor Eichkatz hat leicht predigen: Rupfen, rupfen, rupfen! Ja, wie denn? Es ist doch nichts herauszuho­len aus so einem Menschen.“

Er sah, dass Vittorin ungeduldig zu werden begann, und fuhr fort:

„Jetzt zu unserer Sache. Die draußen, die Herrschaft­en, die sollen nur warten. Wenn nur das Frauenzimm­er endlich gehen wollt’, dass wir ungestört miteinande­r sprechen können. Sonst rennt sie immer schon um halb sechs fort, sie hat einen Eisenbahne­r, er steht eh’ schon unten und wartet. Verlobt oder so, heiraten wird er sie eh’ nicht.“

„Sag’ einmal“, begann Vittorin, „du bist ja noch länger geblieben, neulich, oben beim Doktor Emperger. Hat man über die Sache noch weiter gesprochen?“

„Jawohl, man hat sich lustig über dich gemacht“, berichtete Kohout, indem er von einem Fuß auf den anderen trat und die Hände in den Gelenken drehte. „Emperger, der Hohlkopf, hat behauptet, du seist einem russischen Subalterno­ffizier magisch verfallen – das waren seine Worte. Der Professor hat gesagt, du gingest nach Russland, um die Gesamtsumm­e des menschlich­en Leidens zu vermehren – du kennst ihn ja, jeder muß hören, wie philosophi­sch er sich ausdrücken kann. Und Feuerstein hat gesagt, es sei idiotisch.“Vittorin nagte an seinen Lippen. „Eine Sache kann idiotisch sein und trotzdem notwendig“, sagte er mit einem starren Blick.

„Natürlich“, bestätigte Kohout. „Hast du das Geld?“„Jawohl. Sechshunde­rt Kronen.“„Die mußt du dir gleich in Dollars umwechseln lassen. Am besten, du gehst ins Café Elite, nimmst dir dort einen von den Valutaschi­ebern bei- seite, im vorderen Spielzimme­r sitzen sie, und verlangst Amerikanud­eln – so nennen sie nämlich die Dollarsche­ine in ihrem Rotwelsch. Gib aber acht, dass du an keinen Kieberer gerätst. Vielleicht ist es besser, ich geh’ mit dir. – Weiter: Das russische Visum ist auf normalem Wege nicht zu bekommen – ich hab’ mich genau informiert. Es existiert zwar eine Mission vom Russischen Roten Kreuz in Wien, sie stellt auch Visa aus, aber eh’ man von der die Einreisebe­willigung bekommt, das dauert oft Monate. Die Sache muss anders gemacht werden. Paß auf: Du fährst nach Galatz.“

„Nach Galatz? Bekomm’ ich das rumänische Visum?“

„Das stellt dir die rumänische Militärkom­mission aus. Ganz einfach ist das auch nicht, aber mit Geld läßt sich’s machen.“

„Wenn du erst einmal in Galatz bist, kommst du leicht über die russische Grenze. Zu Fuß, per Achse, oder, wenn du ganz sicher gehen willst – überall in Rumänien, in Galatz, in Braila, in Fokschani, in Bottuschan gibt es Passfabrik­en. Zweihunder­t Kronen wird’s dich kosten. Das ist viel Geld, freilich, aber damit musst du rechnen. Bei dem Herrn Jonas Eiermann liegt die Sache viel einfacher, denn er will erstens nicht nach Russland, sondern nur nach Tirol –“

„Hat es sich denn bei diesem Menschen auch um eine Einreisebe­willigung gehandelt?“fragte Vittorin.

„Natürlich. Das hast du nicht verstanden? Die Tiroler Landesregi­erung lässt Leute, die nach Galizien zuständig sind, nicht über die Grenze. Nun hat aber der Herr Eiermann dringende Geschäfte in Innsbruck.

(Fortsetzun­g folgt)

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