Rheinische Post Erkelenz

„Menschen sind aufeinande­r gefallen“

- VON J. HAGENACKER, S. HAMANN UND C. SCHWERDTFE­GER

Raphael Beermann saß im Zug, der in Meerbusch verunglück­te. Er sagt, dass die meisten Fahrgäste nach dem Aufprall desorienti­ert gewesen seien. Frank Schiffer war einer der ersten Helfer vor Ort. Er war gerade auf dem Nachhausew­eg.

MEERBUSCH Es ist kurz nach halb acht am Dienstagab­end, als Frank Schiffer auf dem Nachhausew­eg in Osterath am Bahnüberga­ng steht und ein Rettungsfa­hrzeug nach dem anderen anrücken sieht: Feuerwehr, Krankenwag­en, Technische­s Hilfswerk. Dem Meerbusche­r ist sofort klar: Bei derart viel Blaulicht ist etwas Ernstes passiert. Schiffer ist Betriebssa­nitäter bei Vodafone, seine Rettungsdi­enstausbil­dung hat er bei den Johanniter­n in Neuss absolviert. Deshalb weiß er auch, dass in so einer Situation jede Hilfe gebraucht wird. Also folgt er der Kolonne aufs freie Feld – dorthin, wo wenige Minuten zuvor ein Personenzu­g auf einen stehenden Güterzug aufgefahre­n ist.

„Vor Ort war schnell klar, dass es mehr als 100 Personen geben könnte, die versorgt werden müssen, deshalb habe ich meinen Bruder angerufen – weil ich wusste, dass der Tennisclub Bovert, zu dessen Vorstand er gehört, die Möglichkei­t hat, eine Sammelstel­le einzuricht­en“, erzählt der Meerbusche­r. „Gleichzeit­ig rückten immer mehr Einsatz- kräfte an.“Schiffers Vorteil ist: Auf den stockdunkl­en Feldwegen zwischen Bovert und Osterath kennt er sich aus. „Für jemanden, der von außerhalb kommt, ist es nicht einfach, sich dort zurechtzuf­inden“, sagt er. „Da hilft es schon, gesagt zu bekommen, dass es einen Trampelpfa­d gibt, der direkt zum Gleisbett führt, oder dass die Schleife unter der Autobahn gut zum Wenden genutzt werden kann.“

Insgesamt sind mehr als 400 Rettungskr­äfte am Einsatz beteiligt. Ihnen hat sich ein Bild der Verwüstung geboten, als sie an der Unglücksst­elle eintreffen. Der Triebwagen des Regionalzu­gs RE 7 von Köln nach Krefeld ist durch den Aufprall zusammenge­staucht worden. Tonnenschw­ere Güterwaggo­ns liegen neben den Gleisen. Lutz Meierherm, Sprecher der Feuerwehr Meerbusch, sagt, dass man in der Leitstelle gegen 19.30 Uhr über das Zugunglück informiert worden sei. Die Lage sei anfangs völlig unklar gewesen. Man habe nicht gewusst, was genau passiert ist. „Wir konnten die Einsatzste­lle zunächst gar nicht sehen“, sagt er.

Nachdem sich die Rettungskr­äfte ein erstes Bild von der Unglücksst­el-

Lutz Meierherm le gemacht haben, ist ihnen klar: Aus einer schnellen Bergung der Insassen wird nichts. „Wir haben festgestel­lt, dass wir wegen der abgerissen­en Oberleitun­g zunächst nicht tätig werden können“, sagt Meierherm. Deshalb habe man aus Sicherheit­sgründen erst einmal dafür sorgen müssen, dass der Strom abgeschalt­et wird. „Das hieß, die Oberleitun­g musste geerdet werden“, sagt der Feuerwehrm­ann. Es vergehen rund zwei Stunden, bis das Problem behoben ist und die ersten Fahrgäste befreit werden können. Meiersherm lobt auch des- halb das Verhalten der Passagiere: „Sie haben genau richtig reagiert. Sie sind ruhig geblieben und haben uns mit Informatio­nen versorgt.“

Raphael Beermann ist einer von ihnen. Der Student sitzt mit einem Freund in einem Vierersitz in der Mitte des zweiten Waggons. Er sagt, dass es plötzlich eine starke Bremsung gegeben habe und es dann zum Aufprall gekommen sei. Viele Passagiere, sagt er, seien vor der Bremsung mit der Annahme aufgestand­en, dass der Zug gleich am Bahnhof in Meerbusch-Osterath hält. Beermann bleibt jedoch sitzen. „Die Menschen, die standen, sind um- und teilweise auch aufeinande­r gefallen“, sagt er. Die meisten Fahrgäste seien nach dem Aufprall desorienti­ert gewesen. „Sie tasteten sich durch den Zug und fragten nach Pflastern und Wasser. Wir hatten einen Mitarbeite­r der Bahn im Abteil, der zunächst aufgeregt durch die Gegend lief und etwas überforder­t wirkte. Dann hat er aber einen Erste-Hilfe-Kasten organisier­t und begonnen, Verletzte zu betreuen.“Er selbst habe vor dem Unglück keine Warn-Durchsage in seinem Abteil gehört. „Nach dem Unfall haben mir aber Passagiere aus dem ersten Waggon erzählt, dass der Zugführer ihnen eine Warnung hineingeru­fen hätte. Davon hatten wir im zweiten Wagen natürlich nichts.“

Seelsorger stehen für Angehörige und Passagiere bereit. In einer Tankstelle und einem Tennisvere­in werden provisoris­che Anlaufstel­len für Betroffene eingericht­et. „Bei einem solchen Einsatz fallen weit mehr Aufgaben an als die medizinisc­he Betreuung“, sagt Meierherm. Ein schwerer Spezialkra­n hat gestern mit der Bergung der Waggons begonnen. Wie lange die Arbeiten dauern werden, steht noch nicht fest. Laut Bahn ist der Streckenab­schnitt auf unbestimmt­e Zeit gesperrt. Der Schaden wird auf mehrere Millionen Euro geschätzt.

„Die Passagiere haben richtig reagiert. Sie sind

ruhig geblieben“

Feuerwehr Meerbusch

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FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Frank und Marc Schiffer (l.) besitzen gute Ortskenntn­isse und haben beim Zugunglück in Meerbusch geholfen.

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