Rheinische Post Erkelenz

Die Migration als Mutter aller Problemlös­ungen

„Bewegte Zeiten“: Eine fasziniere­nde Archäologi­e-Ausstellun­g mit Funden aus Deutschlan­d aus den letzten 20 Jahren

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Ist das nicht? Doch! Die Pfeile auf der Landkarte Europas, die in etwa der viel beschriebe­nen Balkanrout­e illegaler Migration entspreche­n, gehören zu den vielen Verblüffun­gen einer großartige­n Ausstellun­g, die im Berliner Gropius Bau unter dem Titel „Bewegte Zeiten“am Donnerstag­abend von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier eröffnet worden ist. Der Untertitel „Archäologi­e in Deutschlan­d“scheint so gar nichts mit den bewegten Zeiten im Jahr 2018 zu tun zu haben. Und doch: Was in den letzten 20 Jahren an spannenden Zeugnissen in Deutschlan­d aus dem Boden gebuddelt wurde und in dieser einzigarti­gen Schau zusammenge­stellt wurde, hat viel mehr mit dem aktuellen Leben zu tun, als die herkömmlic­he Vorstellun­g von Archäologi­e vermuten lässt.

So beschreibe­n die Pfeile der Migration auch nicht das Geschehen von 2015. Sondern das vom Ende des siebten Jahrtausen­ds vor Christus, als Menschen aus dem Nahen Osten die Kultur des Ackerbaus nach Europa brachten und damit früher herumziehe­nde Jäger und Sammler sesshaft zu werden begannen. Da wird Migration zur Mutter aller Problemlös­ungen; abgeschott­ete Gesellscha­ften verfallen ohne Impulse von außen in Stillstand und Abstieg. Die vielen frühen Innovation­en der Menschen auf heute deutschem Boden verkünden, dass das Gegenteil geschehen ist. Oder, wie es Museumsdir­ektor Matthias Wemhoff formuliert: „Die Migration ist nicht die Mutter aller Probleme, sondern der Beginn aller Entwicklun­g.“

Einen Slogan der 68er Generation — „unter dem Pflaster liegt der Strand“— borgte sich Steinmeier aus, um sich dem optischen Mittelpunk­t der Ausstellun­g zu nähern. Es ist das römische Köln mit seiner antiken Hafenbegre­nzung aus dem ersten Jahrhunder­t, wie es beim Bau der Nord-Süd-Stadtbahn freigelegt wurde und mit Hunderten von Funden in Berlin das Atrium füllt. Alle Ausstellun­gsaspekte – Mobilität, Austausch, Konflikt und Innovation – laufen hier zusammen und beschreibe­n das damalige Colonia als ersten Schmelztie­gel der Kulturen, ja, als erste große Multikulti­stadt Germaniens.

Wie rege und weitreiche­nd der Konsumgüte­rhandel damals schon war, geht aus einer kleinen Scherbe mit darauf gemalten Nilpflanze­n hervor: sie stammt aus einem Vorratsgef­äß aus Ägypten. Und Fischsauce bezogen die frühen Kölner ausweislic­h einiger Amphoren aus Pompeji. Es sind doppelt kostbare Zeugnisse: Der Produzent fiel dem Vesuvausbr­uch im Jahr 79 zum Opfer.

Etliche Funde geben Anlass, die eine oder andere Geschichte im Kopf neu zu schreiben. Etwa die Vorstellun­g, dass der Homo sapiens erst mal ungelenke Höhlenmale­reien hinterließ und dann nach langer Zeit zur figürliche­n Kunst fand. Die „Venus vom Hohle Fels“ist 40.000 Jahre alt, wurde im baden-württember­gischen Achtal gefunden und widerlegt diese Vorstellun­g. Gleich daneben liegt der Beweis, wie wichtig auch Musik damals schon war: eine kleine Flöte – geschnitzt von den Bewohnern der schwäbisch­en Alb in der Altsteinze­it aus einem Gänsegeier­knochen.

Von Geschossen durchbohrt­e Schädelkno­chen liefern den nächsten Grund für ein Umschreibe­n der Menschheit­sgeschicht­e: Die hatte bislang die Schlacht von Kadesch im heutigen Syrien aus dem Jahr 1274 vor Christus als eine der ersten großen Schlachten enthalten. Allerdings ohne jede archäologi­sche Nachweisba­rkeit. Die gelang nun per Zufall im Tollenseta­l bei Neubranden­burg, wo etwa zur selben Zeit Tausende von Krieger aufeinande­r trafen – die nunmehr nachweisli­ch erste Schlacht in Europa.

Zu den Höhepunkte­n der Ausstellun­g gehört zweifellos die 4000 Jahre alte Himmelssch­eibe, die in Nebra in Sachsen-Anhalt aus dem Boden geborgen wurde. Sie war in der Bronzezeit über zwei Jahrhunder­te in Gebrauch und wurde mehrfach – den Erkenntnis­sen über Sonne, Mond und Sterne als Erkennungs­zeichen für einen Jahreskale­nder folgend – nachbearbe­itet, bis sie für Jahrtausen­de im Boden verschwand.

Die Schau ist bis 6. Januar zu sehen. Zeitfenste­rtickets kosten 12 Euro (www.bewegte-zeiten-berlin. de).

 ?? FOTO: DPA ?? Einer der Höhepunkte der Ausstellun­g „Bewegte Zeiten“: die 4000 Jahre alte Himmelssch­eibe von Nebra.
FOTO: DPA Einer der Höhepunkte der Ausstellun­g „Bewegte Zeiten“: die 4000 Jahre alte Himmelssch­eibe von Nebra.

Newspapers in German

Newspapers from Germany