Rheinische Post Hilden

Kopfstände eines Kandidaten

- VON KIRSTEN BIALDIGA

Ralf Derichs (SPD) tritt im Kreis Heinsberg an. In 60 Jahren haben die Sozialdemo­kraten hier nur einmal gewonnen.

WEGBERG Ralf Derichs Wahlplakat hängt kopfüber, der Scheitel zeigt gen Straßenpfl­aster. Wer die Schrift auf dem Bild lesen will, muss sich den Hals verrenken.

Das ist kein Versehen, das ist Aberglaube: Genau hier, an diesem Laternenpf­ahl vor der Sankt-Peterund-Paul-Kirche in Wegberg, hing vor drei Jahren zur Bürgermeis­terwahl das Plakat des Genossen Michael Stock. Auch verkehrt herum. Ihm brachte das Glück: Stock wurde 2014 in Wegberg tatsächlic­h zum ersten roten Bürgermeis­ter überhaupt seit dem Kriegsende gewählt. Auf ein ähnliches Wunder hofft Derichs bei der Landtagswa­hl.

Es wäre allerdings sehr erstaunlic­h, wenn dem 55-Jährigen im Kreis Heinsberg als Direktkand­idat der Einzug in den Landtag gelänge. Hier gewinnt fast immer die CDU. Bis auf ein einziges Mal, aber das war 1985, wie er sich bestens erinnert.

Doch Derichs gibt sich kämpferisc­h: „Die Aufholjagd hat begonnen, bei der letzten Landtagswa­hl lag der Erststimme­nabstand zur CDU nur noch bei fünf Prozentpun­kten.“Auch hier auf dem Lande seien die Wähler-Milieus in Bewegung gekommen. Es gebe immer weniger Bauern, die traditione­lle CDU-Wählerscha­ft schrumpfe.

Leider gilt das genauso für die Wähler der SPD. Seit die Zeche „Sophia Jacoba“vor 20 Jahren im benachbart­en Hückelhove­n schloss, sind auch den Sozialdemo­kraten sichere Wähler verloren gegangen. Jetzt hofft Derichs auch auf jene Unzufriede­nen, die in schlecht bezahlten Jobs im Handel und der Lo- gistik untergekom­men sind. Oder auf jene, deren Arbeitsplä­tze durch das bevorstehe­nde Ende des Braunkohle­tagebaus bedroht sind: „Ich setze mich dafür ein, unseren Kreis zu einem Zentrum für die Entwicklun­g regenerati­ver Energien zu machen“, verspricht er.

Thomas Schnelles Plakate hängen schon. Richtig herum. Zwischen Wegberg und Hückelhove­n gibt es kaum einen Pfahl, den die CDU nicht belegt. Und zwar nur mit Schnelle. Spitzenkan­didat Armin Laschet fehlt. Es habe eine Panne bei der Bestellung gegeben, räumt der CDU-Kreisvorsi­tzende Bernd Krückel ein, zu wenige Ständer.

Sofort spekuliert­en die Genossen, der CDU-Kreisverba­nd habe Laschet mit Absicht nicht plakatiere­n wollen. Hier in der sozialdemo­kratischen Diaspora gilt es, jedes Zeichen der Schwäche beim politische­n Gegner zu nutzen.

Auch Derichs hat sein spezielles Plakat-Problem. Spitzenkan­didatin Hannelore Kraft hat damit nichts zu tun, im Gegenteil, von ihr erhofft sich Derichs einen Schub. Aber dieses Plakat mit der Frau am HeimComput­er und dem Hündchen auf dem Schoß, noch dazu ein Mops, darunter die Aufschrift „#NRWIR schaffen Arbeit“, das sei gar nicht gut angekommen bei der örtlichen SPD. Vor allem bei den Frauen nicht. Das sei dem Ernst des Themas, der Vereinbark­eit von Familie und Beruf, nicht angemessen, habe es geheißen. Und: „Kann man sich vorstellen, dass ein Mann mit einem solchen Hündchen auf dem Schoß bei der Arbeit gezeigt wird?“

Ein paar Kilometer weiter, in der SPD-Zentrale in Hückelhove­n, haben sie gerade andere Probleme. In

Ralf Derichs dem Raum mit den weiß getünchten Backsteinw­änden haben sich an diesem Samstagmor­gen die Jusos um einen langen Holztisch versammelt, den übermächti­gen Gegner gleichfall­s fest im Blick. „Die Junge Union hat im letzten Wahlkampf Kondome vor Schulen verteilt, und zwar vor allem an Migranten – wer so etwas tut, den müssen wir stoppen“, ruft einer in die Runde, der an der RWTH Aachen studiert.

Was die jungen Christdemo­kraten allerdings bestreiten. Nur mit einer Religionsl­ehrerin habe es bei der Aktion Ärger gegeben, erinnert sich Robert Kohnen von der Jungen Union in Übach-Palenberg.

Für Derichs ist in diesem Moment wichtiger, dass sich auch die Jusos für ihn einsetzen. Die Stimmen der Erstwähler braucht er. Mit wohlwollen­dem Lächeln folgt er ihren Diskussion­en: Disco-Wahlkampf wollen sie machen und Boden-Zeitungen in der Fußgängerz­one auslegen. Bloß nicht diese klassische­n InfoStände mit Sonnenschi­rm und SPDKugelsc­hreibern: „Die sind denen vielleicht sogar peinlich“, meint eine Jungsozial­istin.

Wenig später, im malerische­n Wassenberg, trifft Kandidat Derichs auf eine Gruppe, der anscheinen­d nicht mehr so viel peinlich ist. Viele der älteren Damen und Herren tragen weiße Baseball-Kappen auf dem Kopf mit dem Wappen des Bundesadle­rs, nur einer mag seine Helmut-Schmidt-Mütze nicht eintausche­n. Ein gutes Dutzend ist der Einladung der SPD zu einer Stadtführu­ng gefolgt. Derichs hört aufmerksam zu, tippt aber doch das eine oder andere in sein Smartphone und murmelt: „Man glaubt ja gar nicht, was es für Anfragen gibt.“Welche das sind, will er lieber nicht sagen. Wähler zu verprellen kann er sich nicht leisten. Der Stadtführe­r zückt unbeirrt eine vollgeschr­iebe- ne Karteikart­e nach der nächsten. Inzwischen ist er ungefähr im 19. Jahrhunder­t angelangt. Seit jener Zeit habe Wassenberg Federn gelassen, sagt er. Kreisstadt wurde am Ende Heinsberg.

Derichs schaut von seinem Smartphone hoch. Historisch­e Wendepunkt­e interessie­ren ihn.

„Man glaubt ja gar nicht,

was es für Anfragen gibt“

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FOTO: JÜRGEN LAASER Ralf Derichs (SPD) hofft, dass ihm das auf dem Kopf stehende Wahlplakat vor der Sankt-Peter-und-Paul-Kirche in Wegberg Glück bringt.

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