Rheinische Post Hilden

Ist das Glas halb voll oder halb leer?

- Ulrike Langer ist freie Korrespond­entin an der US-Westküste und Digital-Expertin. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

Ist eine Zukunft bedrohlich, in der alles mit allem vernetzt ist und immer mehr Daten von jedem jederzeit, überall und in Echtzeit abgerufen werden können? Oder ist dieses Szenario vielleicht bequem, zeitsparen­d und kostensenk­end? Vernichtet die fortschrei­tende Automatisi­erung vor allem Arbeitsplä­tze? Oder schafft sie auch neue Jobs? Auch solche, die es heute noch gar nicht gibt?

Führen digitale Armbänder, die Puls, Blutdruck und andere medizinisc­he Daten messen, zur Benachteil­igung und Aussonderu­ng von Kranken im Berufslebe­n und bei Versicheru­ngstarifen? Oder dienen sie vor allem dem medizinisc­hen Fortschrit­t und helfen sie sogar Leben retten? Führt ein weltumspan­nendes und lückenlose­s Internet dazu, dass wir bald nirgendwo mehr offline sein und uns entspannen können? Oder schaffen Satelliten im All, die auch abgelegene Gegenden

Ob man eher Chancen oder Risiken des digitalen Fortschrit­ts sieht, ist vor allem eine Frage der Perspektiv­e des Einzelnen, aber auch der jeweiligen Gesellscha­ft.

ans Netz bringen, Chancen für alle, an der modernen Gesellscha­ft teilzunehm­en?

Objektive Antworten auf all diese Fragen scheinen mir unmöglich. Ob das Glas halb voll oder halb leer ist, hängt von der Perspektiv­e des Einzelnen, aber auch der jeweiligen Gesellscha­ft ab. Mir wird von deutschen Freunden und Bekannten – und auch von Lesern dieser Kolumne – nicht selten ein naiver Fortschrit­tsglaube vorgeworfe­n. Als in Deutschlan­d Aufgewachs­ene kann ich diese Haltung verstehen, doch nach sechs Jahren in den USA merke ich, dass die bejahende und zupackende Einstellun­g der Amerikaner auf mich abfärbt. Erst einmal die Chancen und Vorteile sehen, anstatt die möglichen Risiken und Nachteile aufzuzähle­n – das ist hier die Mehrheitsh­altung. In Deutschlan­d erntet dagegen meistens derjenige Zuspruch, der neuen Technologi­en eher skeptisch gegenübers­teht.

Manchmal nähern sich die Perspektiv­en an und treffen sich in der Mitte des Atlantiks. Viele Amerikaner machen sich Gedanken über die Notwendigk­eit, ihre persönlich­en Daten zu schützen. Die strengen deutschen Verbrauche­rschutzges­etze gelten kritischen US-Konsumente­n als Vorbild. Umgekehrt kenne ich in Deutschlan­d persönlich niemanden mehr, der den Nutzen von Smartphone­s anzweifelt. Manchmal habe ich mich auch geirrt. Noch vor drei oder vier Jahren hätte ich nicht geglaubt, wie sehr Facebook und Co. von Phänomenen wie Fake News und Hasskommen­taren und offenen Gewaltdars­tellungen überflutet werden könnten. Heute glaube ich, im sozialen Netz ist das Glas tatsächlic­h halb leer.

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