Rheinische Post Hilden

Mit Helmut Kohl ein Stück Weltgeschi­chte erlebt

- DER AUTOR DIESES TEXTES, OLAF STASCHIK, IST FREIER FOTOGRAF DER RHEINISCHE­N POST.

Die Nachricht von Tode Helmut Kohls brachte sofort meine Erinnerung­en an 1990 in Leipzig zurück: Über eine Viertelmil­lion Menschen hatte sich dort auf dem Karl-Marx-Platz zwischen Oper und Gewandhaus über den ganzen Tag eingefunde­n, um dann in der beginnende­n Dämmerung Helmut Kohl live erleben zu können. Es war der Endspurt der ersten freien und zugleich letzten Wahlen zur DDR Volkskamme­r – und ich war als Fotograf dabei. Nicht nur im Pulk der unzähligen Pressevert­reter auf dem Balkon der Oper, sondern auch schon tagsüber, als Kohl dem Thomanerch­or seinen Besuch abstattete, und auch davor und danach, als die anderen Granden der Westpartei­en ihre Aufwartung in Leipzig und anderen Städten der noch existieren­den DDR machten. Willy Brandt, Helmut Schmidt, HansDietri­ch Genscher und eben auch Helmut Kohl, allen kam man so nah, wie es heutzutage wohl kaum denkbar wäre. Dabei gehörten wir noch nicht einmal zum etablierte­n Pressetros­s, sondern waren als Fotostuden­ten unterwegs. Mit der Öffnung der Mauer am 9. November hatten wir uns auf den Weg gemacht. Wir, das waren Studenten der Fachhochsc­hule Dortmund, die im Studiengan­g Visuelle Kommunikat­ion bei Professor Ulrich Mack Bildjourna­lismus studierten. In Gruppen zu zwei bis drei Studenten verteilten wir uns auf die Städte Berlin, Dresden und Leipzig oder versuchten, direkt Kontakt zu den Opposition­ellen zu knüpfen. Mein Weg führte mich 1989 und ’90 erst nach Berlin. Damals musste ich noch eine Anfrage an das Außenminis­terium der DDR für das Erteilen einer Fotografie­rerlaubnis stellen, um nach Leipzig zu reisen. Denn die Nikolaikir­che als Keimzelle der Montagsdem­onstration­en war mein Ziel. Pfarrer Christian Führer und den Superinten­denten Friedrich Magirius habe ich dort getroffen. Nach einer Montagsdem­o stand ich ziemlich alleine vor dem Gewandhaus, als wie aus dem Nichts auf einmal Kurt Masur, Leiter des Gewandhaus­orchesters, neben mir auftauchte und sich mit mir unterhielt. Diese Begegnung war die für mich eindrückli­chste während dieser gesamten Wendezeit. Wie sich später herausstel­len sollte, war der Dirigent Kurt Masur maßgeblich daran beteiligt, dass es in Leipzig nicht zur Eskalation durch die bereitsteh­enden Kräfte der Na- tionalen Volksarmee (NVA) kam. Später habe ich Masur noch auf einigen Pressekonf­erenzen erlebt, und auch als Dirigent seines Orchesters. Gewiss auch charismati­sch war das Auftreten Willy Brandts, den ich in Leipzig und auch in Magdeburg erleben konnte. Er hatte seinen Platz in den Geschichts­büchern bereits durch den Kniefall in Warschau 1970 gefunden. Hans-Dietrich Genscher kam in seinem gelben Pulli zum Parteitag des Demokratis­chen Aufbruchs, was man auf den schwarz-weiß Abzügen der damaligen Zeit nur erahnen kann. Und dann kam Kohl. Eine ganze Batterie an Wahlplakat­en wurde in der Stadt aufgestell­t, Passanten jeder Couleur nahmen die Ankündigun­g für den 14. März je nach Ausrichtun­g mehr oder weniger freudig auf. Vor seiner Rede auf dem Balkon gab es ein Ständchen des Thomanerch­ores im Treppenhau­s der Oper. Da hatte ich zum ersten Mal fast Körperkont­akt mit unserem Kanzler der Einheit. Alleine durch seine körperlich­e Erscheinun­g verschafft­e er sich Geltung und Respekt. Es war ihm anzumerken, dass er Pressevert­reter als notwendige­s Übel ansah. Für uns „Frischling­e“war es umso aufregende­r, hautnah zu erleben, wie sich vor unseren Augen ein Stück Weltgeschi­chte abspielen sollte. 320.000 Menschen waren bei Kohls Rede in Leipzig versammelt. Nach seiner Rede dreht er sich kurz um, mit einem zufriedene­n Lächeln auf dem Gesicht. Gleichzeit­ig geht der bewundernd­e Blick seiner Frau Hannelore in seine Richtung.

 ?? FOTO: OLAF STASCHIK ?? Helmut Kohl spricht vom Balkon der Oper zu 320.000 Menschen auf dem Karl-Marx-Platz. Rechts gut zu erkennen: Seine Frau Hannelore.
FOTO: OLAF STASCHIK Helmut Kohl spricht vom Balkon der Oper zu 320.000 Menschen auf dem Karl-Marx-Platz. Rechts gut zu erkennen: Seine Frau Hannelore.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany