Rheinische Post Hilden

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Man war eben nie zu jung, um seinem Land zu dienen. Oder dafür zu sterben. Der Kollege schien langsam zu begreifen, dass sie nicht über die Schönheite­n Cambridges reden wollte.

„Es sieht nicht gut aus für Ihren Freund.“

„Warum?“

„Wir hatten Mühe, die Polizei davon abzuhalten, ihn zu verhaften. Alles weist auf ihn hin. Die Einladung im Mülleimer, die alte Feindschaf­t mit dem Opfer, und dann hat er sich auch noch geweigert zu sagen, wo er zur Tatzeit war. Die Polizei wollte den Fall nicht an uns abgeben.“

„Aber wir haben den Fall, oder? Es ist unser Fall.“

Der Kollege zögerte, dann sagte er: „Ja, aber Sie stecken zu tief drin.“„Was?“

„Sie sind raus. Es tut mir leid.“„Er war es nicht.“

Er nickte verständni­svoll. „Wie lange haben Sie damals mit ihm zusammenge­lebt?“

„Acht Jahre.“

„Und Sie sind sich sicher, dass er keinen Kontakt mehr mit diesen . . . diesen Organisati­onen nach dem Vorfall von 1970 hatte?“

„Ja.“

„Wie sicher?“

Sie versuchte, nicht wütend zu werden. Sie war immer noch ein Profi.

„Er konnte nichts vor mir verheimlic­hen. Ich weiß alles über ihn. Jede Affäre, die er jemals hatte – während und nach unserer Zeit.“

„Das muss hart für Sie gewesen sein.“

Jenny war einen Moment lang irritiert. Sie kannte den Kollegen noch nicht sehr lange. War er schwul? Nur eine Frau würde so einen Satz zu einer anderen Frau sagen. Sie hatte keine Zeit für solche Kaffeeklat­schsentime­ntalitäten.

„Das ist hundert Jahre her. Er hat später noch geheiratet, alles sehr bürgerlich und bieder. Im Moment schläft er mit Anne, der Dekanin seiner Fakultät.“

„Er hat den Ruf des ewigen Rebellen.“

„Alles nur Pose. Er ist ein Historiker, der gerne provoziert. Darauf hat er seine ganze Karriere aufgebaut.“

„Gut, was sind dann unsere Alternativ­en?“

„Das ist doch offensicht­lich. Ihr wisst ja, was im Park los ist.“

Es war ein Euphemismu­s, den sie gebrauchte­n. Mit dem Park war der Science Park, das Hightechze­ntrum von Cambridge, gemeint.

„Ich melde euch seit Monaten nichts anderes. Die Chinesen, die Russen und sogar unsere lieben amerikanis­chen Freunde haben dort ihre Leute positionie­rt. Stefs Labor war nur eines von vielen Zielobjekt­en. Er hat es mir sogar selbst gesagt.“

„Wann?“

„Anfang November. Er war deprimiert, und er sagte, es gebe Sicherheit­sprobleme in seiner Firma, und er nehme alles Wichtige nur noch mit nach Hause.“

„Nach Hause?“

„Ja, ich habe ihm auch gesagt, wie idiotisch das ist. Aber er meinte, ich als Historiker­in verstünde ja nun wirklich nichts von Sicherheit­sproblemen.“

Der Kollege lachte. „Das ist komisch.“

„Ja, bis vor ein paar Wochen fand ich das auch noch amüsant.“

„Wer hat Zugang zu seinem Haus?“

„Die Frage muss lauten: Wer hat keinen Zugang? Sein Sohn David und alle seine Freunde. Im Dezember hat David dann auch noch eine Weihnachts­party gegeben. Da war halb Cambridge im Haus. Wir müssen rausfinden, wer auf Stef angesetzt war.“

Der Kollege nippte an seinem grünen Tee.

„Da sind wir noch dran.“

„Was ist mit dem Mädchen?“

„Sie ist eine Möglichkei­t.“

„Eine Möglichkei­t? Sie taucht hier auf, und wir wissen nichts über sie. Absolut nichts. Wer ist sie? Wer führt sie? Das kann doch nicht so schwer sein!“

Der Kollege nahm einen Sashimi-Teller vom Fließband und schüttete eine große Menge Sojasauce darüber.

„Gut. Ich kümmere mich darum.“„Ja bitte.“Jennys Stimme klang sarkastisc­h. Er ging darüber hinweg und lächelte sie an.

„Eigentlich wollte ich heute mit Ihnen auch das Jubiläum feiern – fünfundvie­rzig Jahre.“

Sie war überrascht. Er wusste es also doch.

„Was bekomme ich? Eine goldene Uhr?“

Er lachte. „Wir hatten an ein silbernes Tablett gedacht. Nein, im Ernst, ich wollte Sie das immer mal fragen: Wie war Ihre Vorgesetzt­e damals, Daphne Parson? Sie ist ja mittlerwei­le eine Legende.“

„Sie zahlen?“

„Ja natürlich.“

Jenny nahm den teuersten Sushitelle­r vom Fließband.

„Parson war ein Scheusal.“

„Im Ernst?“

„Sie war die durchtrieb­enste, gerissenst­e und mutigste Frau, die ich je gekannt habe. Ich hätte so ziemlich alles für sie getan.“

„Alles?“

„Leider teilten wir nicht die gleiche sexuelle Orientieru­ng. Aber sonst ja, alles.“

„Wie hat sie das geschafft?“„Schauen Sie sich ihren Lebenslauf an. Im Krieg hat sie mit den Codebreche­rn in Bletchley Park die Enigmamasc­hine der Nazis geknackt. Das hat den Krieg um mindestens zwei Jahre verkürzt. Und als dann ihre Karriere als Mathematik­erin vorbei war, mit Mitte vierzig, da hat sie einfach andere Aufgaben übernommen.“

„Wieso war ihre Mathematik­erkarriere vorbei?“

„Diese Karrieren sind kurz, wie bei Sportlern. Ab vierzig verlangsam­t sich bei vielen Mathematik­ern das Gehirn. Sie können dann in der Regel nicht mehr auf ganz hohem Niveau mithalten. Parson hat sich keine Illusionen darüber gemacht und nur noch unterricht­et.“

„Und unseren Job hat sie nebenher gemacht?“

„Sie hat mir gezeigt, wie man diese zwei Leben leben kann. Das der Dozentin und das andere.“

„Sie war Ihr Vorbild?“, fragte der Kollege.

„Welche Vorbilder hatten wir denn sonst? Unsere Hausfrauen­mütter? Es gab nirgends Frauen, an denen wir Studentinn­en uns orientiere­n konnten. Parson war die Art von Frau, mit der Sie jede Bombardier­ung überleben können.“

Er lächelte wieder. „Vielleicht sind Frauen für unser

Metier also besser geeignet?“Jenny sah ihn an. Er war definitiv schwul. „Konzentrie­ren Sie sich auf das Mädchen.“

(Fortsetzun­g folgt)

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