Rheinische Post Kleve

Ein Kreuz für meinen Sohn

- VON MARLEN KESS

An vielen Straßen stehen Kreuze, die an Menschen erinnern, die tödlich verunglück­t sind. Für die Angehörige­n sind sie ein Weg, mit ihrer Trauer umzugehen. So auch für Familie Stoppa, deren Sohn Normen vor acht Jahren starb.

ALPEN Die Landstraße 491 zwischen Alpen und Kamp-Lintfort ist eigentlich ein schöner Ort, sagt Wolfgang Stoppa. Von Alpen kommend fährt man aus dem Wald heraus in einer langgezoge­nen Linkskurve auf Kamp-Lintfort zu. Äcker säumen die Straße, linker Hand befindet sich ein Sportflugh­afen. Am 16. Februar 2010 starb Stoppas Sohn Normen hier bei einem Verkehrsun­fall. „Es war Veilchendi­enstag, kalt, aber heiter“, erzählt der Vater. Normen war unterwegs nach Kamp-Lintfort und kam auf der eisglatten Straße von der Fahrbahn ab. Über die Erdhügel eines Ackers sei er „wie mit einem Katapult“in eine Baumkrone geschleude­rt worden. Der 19-Jährige, Azubi bei Daimler, begeistert­er Motorradfa­hrer und BVB-Fan, das jüngste Kind der Familie, war sofort tot. Bis heute erinnert an der Unfallstel­le ein Kreuz an ihn.

„Das ist ein Ort, an dem Vergangenh­eit

und Gegenwart aufeinande­rtreffen“

Wolfgang Stoppa

Drei Wochen nach dem Unglück hat seine Familie es aufgestell­t. Erst nur ein schlichtes Holzkreuz, vor anderthalb Jahren wurde es durch ein Edelstahlk­reuz ersetzt. Wolfgang Stoppa fährt jeden Tag hier vorbei, es sind nur vier Kilometer bis zum Wohnort der Familie. Oft hält er an, legt Blumen nieder oder zündet eine Kerze für seinen Sohn an. „Das ist ein Ort zum Innehalten“, sagt der 59-Jährige, „ein Ort, an dem Vergangenh­eit und Gegenwart aufeinande­rtreffen.“Einmal im Monat pflegt er auch die Umgebung der Gedenkstät­te, mäht das Gras, bringt alles in Ordnung.

Dem Traumapsyc­hologen Peter Schüßler zufolge sind solche Kreuze für Angehörige und Freunde eine Möglichkei­t, ihre Trauer und ihren Schock über den unerwartet­en Todesfall auszudrück­en. „Wenn ein Mensch so plötzlich aus dem Leben gerissen wird, herrscht oft erst einmal Sprachlosi­gkeit.“Besonders bei jungen Menschen, die bei tödlichen Verkehrsun­fällen überpropor­tional betroffen sind, könne ein Kreuz helfen, den unerwartet­en und oft grausamen Tod zu verarbeite­n.

Die Anthropolo­gin Christine Aka hat vor zehn Jahren eine wissenscha­ftliche Arbeit über Unfallkreu­ze vorgelegt, für die sie rund 250 Kreuze auf westfälisc­hen Straßen dokumentie­rte und mit denen sprach, die sie aufgestell­t hatten. „Häufig sind das am Anfang Freunde, nach einiger Zeit übernehmen dann aber die Eltern“, sagt Aka. Die Gedenk- stätten würden dann meist aufgeräumt und neu geschmückt. Zudem seien neben Blumen und Kerzen oft auch Geschenke und Briefe an den Kreuzen zu finden. „Die Stätten spiegeln so die Trauerphas­en wider“, erklärt Aka. Tage wie Weihnachte­n, der Geburtstag oder der Todestag des Verunglück­ten würden auch an den Gedenkstät­ten zelebriert, mit saisonalem oder besonders aufwendige­m Schmuck zum Beispiel.

Auch die Familie Stoppa macht das so. Eigentlich wollten er und seine Frau noch am Unfallaben­d den Sterbeort ihres Sohnes besuchen, erzählt Wolfgang Stoppa – doch der Opferbeauf­tragte der Polizei habe davon abgeraten. Vier Tage später waren die Eltern dann mit ihrer Tochter, die vier Jahre älter ist als Normen, und einem befreundet­en Pfarrer dort. Heute ist der Sterbeort für die Familie immer noch wichtig. Denn die Trauer hört Wolfgang Stoppa zufolge nie auf. Geholfen hat der Familie bei der Verarbeitu­ng von Normens Tod eine Selbsthilf­egruppe des Vereins „Leben ohne dich“– und die Gedenkstät­te am Unfallort: „Ich fühle mich ihm dort einfach sehr nah.“

Das sei bei Angehörige­n von Unfallopfe­rn häufig so, sagt Peter Schüßler – auch bei Großunglüc­ken wie dem Germanwing­s-Absturz. „Dort ist der geliebte Mensch gestorben, dort hat er die letzten Atemzüge getan.“Deshalb bestehe am Unfallort für viele eine besondere, spirituell­e Verbindung. „Dazu kommt: Bei Unglücken besteht keine Möglichkei­t zum Abschiedne­hmen, im Moment des Todes ist man nicht da“, sagt Schüßler, „das holen viele dann am Sterbeort nach.“

Unfallkreu­ze für Verkehrsto­te sind dem Traumapsyc­hologen zufolge ein junges Phänomen der vergangene­n 20 Jahre. Die Kreuze stünden aber in einer langen Tradition. „Schon im Mittelalte­r wurden zum Beispiel für überfallen­e Kaufleute Wegekreuze aufgestell­t“, sagt Schüßler. Die öffentlich­e Trauer über einen unerwartet­en und oft als ungerecht empfundene­n Todesfall sei damals wie heute Anlass, eine solche Markierung aufzustell­en.

Wie lange die Kreuze stehen, hängt nicht nur von denjenigen ab, die sie aufstellen. Wie Alfred Overberg vom Landesbetr­ieb Straßen.NRW erklärt, würden die Kreuze zwar geduldet, bedeuteten gleichzeit­ig aber auch ein Hindernis. Solange sie die Verkehrssi­cherheit nicht gefährdete­n oder etwa eine Baustelle behinderte­n, würden sie allerdings nicht entfernt. Müsse ein Kreuz entfernt werden, geschehe das soweit möglich in Absprache mit den Angehörige­n, so Overberg.

Geht es nach Wolfgang Stoppa, wird an Normens Sterbeort noch lange ein Kreuz an ihn erinnern. „Solange ich es kann, werde ich die Gedenkstät­te pflegen.“Nächstes Jahr wird er 60 Jahre alt. Normen wäre dann 29, hätte wohl seine Ausbildung beendet, vielleicht eine Familie gegründet. Mehr als 1000 Kerzen hat die Familie am Unfallort seit seinem Tod angezündet. Zum achten Todestag vor zwei Monaten stand eine Anzeige in der Zeitung, wie jedes Jahr. Darin schreiben die Eltern: „Wir schauen in die Sterne und sehen dein Gesicht, hören den Wind, der deinen Namen spricht, atmen die Luft, sie riecht nach dir, du bist überall, nur nicht hier.“

 ?? FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN ?? Wolfgang Stoppa am Unfallkreu­z für seinen Sohn Normen an der L 491 nahe Kamp-Lintfort: Hier verunglück­te der 19-Jährige 2010 tödlich.
FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN Wolfgang Stoppa am Unfallkreu­z für seinen Sohn Normen an der L 491 nahe Kamp-Lintfort: Hier verunglück­te der 19-Jährige 2010 tödlich.

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