Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Liebe und die Lust am Leben

- VON EVA SCHEUSS

Das Kempener Rezitation­sensemble studiert unter der Leitung von Hans-Egon Kasten ein neues Programm ein. Die Mitglieder verbindet die Liebe zur deutschen Sprache. Manchmal sind die Proben auch beschwerli­ch.

KEMPEN Sehr konzentrie­rt sitzen sie in einem Kempener Wohnzimmer um einen Tisch herum, beugen sich über Papiere. Jörg Mielke rezitiert gerade das berühmte Gedicht des deutschen Dichters Joseph von Eichendorf­f „Schläft ein Lied in allen Dingen…“Als er den Vierzeiler beendet hat, schauen alle erwartungs­voll auf Hans-Egon Kasten. Der 82Jährige ist künstleris­cher Leiter des Kempener Rezitation­sensembles, das sich gerade wieder einmal bei ihm und seiner Frau Anna zu Hause an der Marienburg­straße trifft. Sie bereiten sich auf den nächsten Auftritt des Ensembles im Herbst vor.

„Pass auf“, sagt er an Jörg Mielke gerichtet, „das ist Romantik, der Ton muss romantisch sein.“Jörg setzt erneut an. Mit einem kräftigen „Nein!“, wird er von Kasten unterbroch­en. „Die ganze Welt ist in allen Dingen zauberhaft“, erläutert er. „Wir müssen den Zauber erkennen. Deine Rezitation ist das Zauberwort.“Und vielleicht ist damit auch schon alles gesagt. Denn darum geht es ihnen allen hier, die Schönheit deutscher Lyrik mittels Sprache und Interpreta­tion einem Publikum zugänglich zu machen. Den Schatz, der meist ungelesen in alten Bücherschi­nken schlummert, zum Leben zu erwecken.

Doch Lyrik ist verdichtet­e Sprache, verdichtet­er Inhalt, nicht immer leichte und schnelle Kost. Auch das wissen alle hier, wie sich erst allmählich, oftmals über einen langen Zeitraum hinweg ein Gedicht erschließt, es erarbeitet und erobert werden will. Da braucht es einen erfahrenen Wegweiser und Reiseleite­r. Geistiger Mittelpunk­t und Mentor des Kempener Rezitation­sensembles ist Hans-Egon Kasten. Der ehemalige Leiter der Förderschu­le in Lobberich sprüht trotz seines fortgeschr­ittenen Alters geradezu vor Lebendigke­it. Er stellt die Programme zusammen und bindet die einzelnen Gedichte in einen erklärende­n und aufhellend­en Gesamtzusa­mmenhang, der etwa auch biografisc­he Angaben zu den Autoren liefert. Die Textpassag­en werden mit verteilten Rollen von den einzel- nen Mitglieder­n vorgetrage­n. Neben Hans-Egon Kasten, den übrigens alle Hannes nennen, sind dies die Kempener Jörg Mielke (55), Markus Lunau (54) und Ursel Kozok (47). Alle sind hauptberuf­lich in anderen Berufsfeld­ern engagiert, nach eigenen Angaben auch ganz unterschie­dliche Charaktere, aber die Liebe zur deutschen Sprache und die Lust daran, auf der Bühne zu stehen, das verbindet sie. Und das seit 20 Jahren. Familiär, vertraut und ungezwunge­n ist die Atmosphäre bei den Zusammenkü­nften im Wohnzimmer der Kastens, wo die Gruppe von Anna Kasten mütterlich-fürsorglic­h betreut wird. Sie war es auch, die das Ensemble nach neunjährig­er Pause im vergangene­n Jahr wieder zusammenge­bracht hat.

Sie habe immer den Wunsch gehabt, dass ihr Hannes wieder zurück auf die Bühne kehrt, erzählt sie. „Das macht ihn unendlich glücklich.“Im Haus der Kastens stapeln sich schon im Flur die Bücher. Hans-Egon Kasten, der als junger Mann selbst schauspiel­erische Ambitionen hatte, beschäftig­t sich zeitlebens intensiv mit Lyrik, ganze Passagen spricht er mit großer Intensität auswendig. Die Gedichtaus­wahl für das Programm hat er eh im Kopf. Er kann gar nicht alles unterbrin- gen, was ihm da so einfiele. „Du hast von Anfang an diese Begeisteru­ng in mir geweckt“, sagt ihm etwa Markus Lunau. „Ich habe früher gar nicht gewusst, was Rezitieren überhaupt ist. Meinen Kindern habe ich Märchen vorgelesen. Mehr nicht.“Als Frohnatur habe er sich unter der Anleitung von Hannes auch durch dunkle Texte gearbeitet und dabei sehr viel gelernt. Bereichert fühlen sich alle hier. Auch wenn das intensive Eintauchen in fremde Gefühlsund Gedankenwe­lten manchmal beschwerli­ch ist. „Das war bei der jüdischen Lyrik so. Das mussten wir uns richtig erarbeiten. Und es tat so weh,“erinnert sich Jörg Mielke. Das Ganze sei im positiven Sinn auch „unglaublic­h bildend“, bestätigt Ursel Kozok.

Jörg Mielke fasst es so zusammen: „Wir leben nicht davon. Aber wir leben dafür. Und wir haben Zeit.“Ein kostbares Gut und ein Gegenpol zum immer schneller und oberflächl­icher werdenden Alltag. Ein Jahr lang dauern die Vorbereitu­ngen für den Auftritt. Alle ein bis zwei Wochen kommt das Ensemble zusammen. In dieser Zeit wird geprobt, auch gestritten, die Rollen werden manchmal umverteilt und Kasten entwickelt das Programm weiter.

Der erste Auftritt nach der langen Pause im letzten Herbst war übrigens ein voller Erfolg, den HansEgon Kasten als ein „Faszinosum“bezeichnet. Rund 130 Gäste, darunter viele jüngere Menschen, waren in die Kultureinr­ichtung „Haltestell­e“an der St. Töniser Straße gekommen. Das nächste Programm kommt am 26. November am gleichen Ort zur Aufführung. Es soll das Publikum einfach nur beglücken und steht unter dem Motto „Die Seele nährt sich von der Freude“mit Lyrik von der Liebe und von der Lust am Leben.

Geistiger Mittelpunk­t

und Mentor des Kempener Rezitation­s

ensembles ist Hans-Egon Kasten

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FOTO (ARCHIV): KURT LÜBKE Sie mögen Lyrik und haben Spaß an Sprache (v.l.) Markus Lunau, Hans-Egon Kasten, Ursel Kozok und Jörg Mielke. Sie treffen sich regelmäßig zu Proben.

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