Rheinische Post Krefeld Kempen

Gleichheit war für ihn keine Phrase

- VON KARL KARDINAL LEHMANN

Das Leben von Altbundesk­anzler Helmut Kohl ist oft beschriebe­n worden. Es gibt eine Reihe von freilich sehr verschiede­nen Biografien über ihn. Für sein Leben sind jedoch seine ausführlic­hen Memoiren unentbehrl­ich, auch wenn man nicht überall Kohls Perspektiv­en übernehmen muss. Ich will hier einige grundlegen­de Beobachtun­gen, die sich in den Begegnunge­n mit Helmut Kohl durch die Jahrzehnte durchgehal­ten haben, kurz und bündig zur Sprache bringen. Sie können selbstvers­tändlich vermehrt werden. 1. Geschichte und Gegenwart Gerade auch in herausford­ernden Stunden der Gegenwart spürte man immer wieder, wie sehr Helmut Kohl durch die Tradition seiner Familie, die bleibenden Werte des Glaubens und nicht zuletzt auch durch sein Geschichts­studium an der Universitä­t Heidelberg geprägt war. Pure Aktualität gab nie allein den Ausschlag. Was geschah, wurde immer wieder eingebette­t in das Ganze erlebter und erlittener Geschichte. Dies hat jedoch seinen Blick für den rechten Augenblick und die notwendige Entscheidu­ng keinesfall­s getrübt, eher geschärft und den „Kairos“, die günstige Zeit, entdecken und ergreifen lassen. 2. Umkehr zum Frieden Helmut Kohl war neun Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, und 15 Jahre bei Kriegsende. Hellwach hat er die oft bitteren Nachkriegs­jahre erlebt. Selten, aber dann sehr intensiv, spielte der Tod seines älteren Bruders bei der Landung der Alliierten in der Normandie eine wichtige Rolle. Dies betraf nicht nur den großen persönlich­en Verlust, sondern forderte ein ganz neues Miteinande­r der verfeindet­en Völker Europas, besonders mit Frankreich. Dies darf sich nie wiederhole­n, war seine tiefste Überzeugun­g. Deswegen erklärt sich von hier aus auch die Rolle eines neuen Europas in seinem politische­n Denken und Handeln, auch seine geradezu freundscha­ftlichen Beziehunge­n zu den großen europäisch­en politische­n Gestalten seiner Zeit. 3. Sinn für die „Kleinen“Europäisch­e Staatsmänn­er aus kleinen Ländern – ich könnte manche Namen nennen, jetzt nur JeanClaude Juncker – haben mir öfter gesagt, und sie haben es auch in Reden öffentlich betont, dass sie Helmut Kohl im Zusammensp­iel der europäisch­en Kräfte ganz besonders schätzen, weil er gerade als Vertreter eines größeren und mächtigere­n Landes immer eine Sensibilit­ät und Rücksicht walten ließ gegenüber kleineren Partnern. Er hat sie nicht einfach überfahren, sondern hat durchaus immer wieder auf sie gehört und nicht selten auch erklärt, dass er von ihren Sorgen gelernt hat. Nicht zuletzt deswegen hatte er fast überall ein großes Vertrauen. Er war nicht die Dampfwalze, die alles brutal niederwalz­te, zu der ihn manche immer wieder machen wollten. 4. Gradlinigk­eit und Gleichheit Politikern wirft man immer wieder opportunis­tisches Denken, rücksichts­loses Draufgänge­rtum und blanken Egoismus vor. Ich will Helmut Kohl mitten in den Stürmen der Politik nicht von all den damit verbundene­n Verführung­en losspreche­n. Aber gerade auch im kleinen Bereich war er überaus korrekt. Als ich mit ihm mehrere Male in Österreich in den Bergen wanderte, waren unsere österreich­ischen Gastgeber stolz auf sein Kommen und wollten auf keinen Fall von ihm zum Beispiel für die Bergbahnen, eine Erfrischun­g oder ein Essen bezahlt werden. Er hat dieses Entgegenko­mmen immer sehr entschiede­n abgelehnt und immer darauf bestanden, dass er wie jeder andere bezahlt. Oft waren die Leute enttäuscht wegen seiner geradezu peniblen Korrekthei­t. Gleichheit war für ihn keine Phrase. 5. Nicht nur politische Interessen Ich habe Helmut Kohl seit 1968, als ich an der Universitä­t Mainz zu lehren begann, und erst recht seit 1983, als ich Bischof in Mainz wurde, nicht oft, aber regelmäßig zwei- bis dreimal im Jahr getroffen. Wir machten viele Spaziergän­ge, besonders im Winter im Pfälzer Wald und einige Male auf dem berühmten Heidelberg­er Philosophe­nweg, gelegentli­ch auch in Österreich. Wir sprachen äußerst selten über Politik. Er wollte die Gelegenhei­t nutzen, um mehr zu erfahren über das Leben des Geistes, die Situation der Kirche und über einzelne Persönlich­keiten, angefangen von den Päpsten über Bischöfe und Theologen. Die Vielseitig­keit der Aufmerksam­keit war mitten in politische­n Wirren verblüffen­d. Helmut Kohls Denken hatte einen langen Atem. Er war nicht der Banause, den manche in ihm sehen wollten. Er hat aber auch nie mit seiner klassische­n Bildung geprahlt.

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FOTO: IMAGO

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