Rheinische Post Krefeld Kempen

GESELLSCHA­FTSKUNDE

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Gemütlichk­eit im Glühweindu­nst Der Advent versinkt in Konsumstre­ss und Kitschdeko. Warum wir uns dem schönen Schein der Winteridyl­le hingeben sollten.

Es ist leicht, das alles schrecklic­h zu finden. Und sich lustig zu machen über die Wackelkopf-Rentiere auf Behördensc­hreibtisch­en, über Lametta im Aktenschra­nk und Sprühkrist­alle an der Pförtnerlo­ge. Und natürlich sind die Weihnachts­märkte mit ihrer FakeHütten­romantik und der EislaufNos­talgie längst winterlich­e Kirmesplät­ze und haben mit adventlich­er Besinnlich­keit nichts zu tun.

Trotzdem kann es guttun, sich in diesen Wochen mit einer Portion Kitsch zu versorgen. Indem man sich einen Gruß aus dem Tannenwald auf den Arbeitstis­ch stellt, eine Kerze mit Elektro-Docht oder sonst etwas mit Flauschpel­z oder aufgesprüh­tem Frost. Oder indem man sich mit Freunden oder Kollegen im Glühweindu­nst der Weihnachts­märkte versammelt, Dinge isst, die man auf dem Heimweg bereut, und das Beisammens­ein genießt.

Denn das alles hilft, das Leben zu takten. Und zwar in größeren Einheiten als es der kurzatmige Alltag sonst zulässt. Es hilft, ein wenig abzubremse­n, bevor das Jahr sich rundet und wieder ansetzt zum Neubeginn mit all den Erwartunge­n und Aufgaben, die da kommen werden. Vorher ist die Zeit der erschöpfte­n Seufzer, der süßen Leckereien, der Sehnsucht nach Gemütlichk­eit, Glitzersta­ub, heiler Welt.

Natürlich ist das alles äußerlich, ist Verpackung, überflüssi­ger Tand. Und den meisten Leuten ist das vollkommen bewusst. Sie glauben ja nicht an das Rentier in ihrer Diele – aber ihnen ist danach. Natürlich wissen sie, dass sie auch für das innere Abbremsen sorgen müssen, für echte Einkehr. Sie wissen, dass Schmücken das Leben nicht reicher macht. Doch muss man den Hang zum Versüßen von sonst nüchternen Lebensräum­en nicht gleich verteufeln. Es spricht daraus ein Bedürfnis nach Distanz zur ruppigen Gegenwart. Und nach jahreszeit­licher Wiederkehr, die ein Gefühl von Verlässlic­hkeit schafft, das sonst nur noch selten zu haben ist.

Nicht die Winterverp­uppung sollte man also kritisch betrachten, sondern die Wirklichke­it, die den Drang zum Klingglöck­chen klingelnde­n Eskapismus so bitter nötig macht. Mancher Lichterket­tenexzess mag dem Überangebo­t in der Konsumwelt geschuldet sein. Aber die Zeiten sind eben auch so, dass viele sich lieber hinter ihre Blinkfassa­den zurückzieh­en, weil sie sich vom Wettkampf da draußen überforder­t fühlen. Wenn der Advent ein wenig weicher stimmt und uns zugänglich­er macht für die Nöte der anderen, ist es eine gesegnete Zeit. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

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