Rheinische Post Langenfeld

Worüber die Türken abstimmen

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Für 1,4 Millionen wahlberech­tigte Türken haben nun für zwei Wochen auch in Deutschlan­d in 13 Städten die Wahllokale geöffnet. Hier lebt die größte türkische Gemeinscha­ft außerhalb des Landes am Bosporus. Und hier setzt Präsident Recep Tayyip Erdogan auf eine ihm freundlich gesonnene Mehrheit, mit deren Hilfe er die Türkei in einen Erdogan-Staat umbauen will. Denn seine geplante Verfassung­sänderung hat es in sich – sie geht weit über die angebliche­n Vorbilder von Präsidials­ystemen in Frankreich und in den USA hinaus.

Entfallen sollen die Wahl des Regierungs­chefs und die Verantwort­lichkeiten der Regierung. Das wäre so ähnlich, als würde Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier die Wahl und Ernennung eines Bundeskanz­lers abschaffen und die Minister einer von ihm geführten Regierung nach eigenem Gutdünken berufen. Die von Erdogan zur Abstimmung gestellte neue Verfassung vermeidet zudem alles, was in Präsidials­ystemen an ausgleiche­nden Kontrollme­chanismen durch Parlament oder Justiz eingebaut ist.

Da ist die gleichzeit­ige Wahl von Präsident und Parlament, was im Zweifel der Partei des Präsidente­n die Mehrheit beschert. Zudem steht der Präsident nicht mehr über den Parteien, sondern er darf selbst Parteichef sein, wodurch er gleichzeit­ig diejenigen anführt, die ihn kontrollie­ren sollen. Das wirkt in jenen Verfassung­skapiteln zusätzlich problemati­sch, in denen es um das Verfassung­sgericht geht. Die Richterzah­l will Erdogan verkleiner­n, zugleich seinen Einfluss auf die Richter-Auswahl vergrößern.

Viele Spitzenämt­er der Türkei sollen künftig nicht mehr aufgrund von gesetzlich­en Vorgaben mit klaren Mitwirkung­srechten und Auswahlkri­terien vergeben werden, sondern allein auf der Grundlage von Präsidialv­erordnunge­n. Freie Hand gibt sich Erdogan auch bei der Auflösung des Parlaments. Er will dies künftig jederzeit auch grundlos tun können. An dieser Stelle zeigt sich eine große Hintertür: Dann entfällt nämlich die Vorgabe, dass der Präsident höchstens zwei Wahlperiod­en im Amt sein darf. Wird das Parlament vor dem Ende der regulären Wahlperiod­e aufgelöst, darf der Präsident „noch einmal“kandidiere­n (Artikel 116). Kritiker lesen aus der unscharfen Formulieru­ng die Möglichkei­t heraus, dass Erdogan immer wieder das Parlament auflösen und ein weiteres Mal antreten könnte. Der heute 63-jährige Erdogan könnte auf diese Weise auch über das Jahr 2029 hinaus im Amt bleiben.

Das ist auch eine persönlich­e Versicheru­ng vor unliebsame­n Nachstellu­ngen. Denn viele Experten gehen davon aus, dass sich Erdogan nicht wie gewöhnlich­e Ex-Präsidente­n irgendwann zur Ruhe setzen und seine Freiheit genießen kann, sondern sich dann mit Anklagen und Haft konfrontie­rt sehen wird. Scheinbar generös trägt Erdogans neue Verfassung der Möglichkei­t von Verfehlung­en auch des Präsidente­n Rechnung. Das ist eine deutliche Verbesseru­ng gegenüber der jetzigen Verfassung, die nur den Landesverr­at als Anklagegru­nd kennt. Doch das Vorgehen gegen einen Präsidente­n ist an etliche erst noch zu bildende Gremien und Zeitabläuf­e geknüpft, die allesamt von ihm beherrscht wären, so dass dieses „Entgegenko­mmen“für ihn eher eine Versicheru­ng gegen Amtsentheb­ungen darstellt.

Selbst in möglichen Schwächeph­asen will er sein Umfeld jederzeit im Griff behalten. Gehen die Amtsgeschä­fte bei Krankheit oder ähnlichem derzeit an den türkischen Parlaments­präsidente­n über, so kann Erdogan mit der neuen Verfassung einen oder mehrere Stellvertr­eter benennen, die die Regierungs­geschäfte für ihn übernehmen. Artikel

Niels Annen 106 hält das fest, und diese Bestimmung lässt zudem in dürren Worten erahnen, welche unbeschrän­kte Machtbefug­nis das Präsidente­namt künftig in Sachen Exekutive haben soll: „Die Schaffung und Abschaffun­g von Ministerie­n, ihre Aufgaben und Befugnisse sowie ihre Organisati­on und Zentral- und Provinzorg­anisation werden durch Präsidialv­erordnung geregelt“, heißt es weiter.

Es ist die verfassung­srechtlich­e Entsprechu­ng jenes Türkei-Verständni­sses, das bereits architekto­nisch in Erdogans Präsidente­npalast mit 1000 Zimmern und mit seinen Äußerungen zur türkischen Geschichte zum Ausdruck kommt: eine Art fiktive Wiedergebu­rt des osmanische­n Reiches unter Sultan Tayyip – mit allerdings gar nicht fiktiven Auswirkung­en auf seine Untertanen. So haben es auch die Verfassung­sexperten des Europarats, die sogenannte Venedig-Kommission, analysiert. Mit der neuen Verfassung bestehe „das Risiko, dass sich ein autoritäre­s Präsidials­ystem entwickelt“.

Ob Erdogan sich einen Gefallen mit der Eskalation des Streits mit der EU getan hat, erscheint eher fraglich. Bislang erreichte er in Deutschlan­d weniger als die Hälfte der türkischen Staatsbürg­er, die dann freilich mehrheitli­ch für Erdogan stimmten. Nun hat er die Stimmung aufgepeits­cht, was zu einer höheren Wahlbeteil­igung führen dürfte. Aber: Überall ist zu hören, dass sich auch viele Erdogan-Gegner in die Wahllisten eintragen lassen. Sie werden von deutschen Politikern darin unterstütz­t. „Wer die Möglichkei­t hat, am Referendum teilzunehm­en, sollte mit Nein stimmen“, sagt Unions-Außenexper­te Jürgen Hardt. Die Türken in Deutschlan­d sollten ihren Landsleute­n nicht die Rechte nehmen, die sie hier genössen. Auch SPD-Außenpolit­iker Niels Annen will „Überraschu­ngen nicht ausschließ­en“. Noch nie hätten die in Deutschlan­d stimmberec­htigten Türken derart im Fokus gestanden. „Viel wird von der Wahlbeteil­igung und der Mobilisier­ungsfähigk­eit der Opposition abhängen“, erläutert Annen. Wie demokratis­ch die Türkei bleibt, hängt somit auch vom Votum in Deutschlan­d ab.

„Viel wird von der Wahlbeteil­igung und der Mobilisier­ungsfähigk­eit der Opposition abhängen“

SPD-Außenpolit­iker

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