Rheinische Post Langenfeld

Amerikanis­che „Zufluchtss­tädte“unter Druck

- VON FRANK HERRMANN

Viele US-Kommunen gehen aus Überzeugun­g nicht aktiv gegen Einwandere­r ohne Papiere vor. Doch diese Praxis ist umstritten.

PHILADELPH­IA Wenn sie kommen, wird sie die Tür nicht aufmachen, sagt Olivia Ponce. Sollen sie Sturm klingeln, sollen sie mit ihren Fäusten gegen das Holz hämmern, sie wird nicht öffnen. Die Beamten müssten schon mit Haftbefehl anrücken, wollten sie sich Zutritt zu ihrer Wohnung verschaffe­n. „Und einen Haftbefehl haben sie nicht, ich hab‘ ja nichts verbrochen.“

Olivia Ponce kam im Jahr 2001 aus dem mexikanisc­hen Bundesstaa­t Puebla in die USA. Erzählt sie davon, wird sie schnell emotional. Ihre Tochter Olivia ließ sie in der Obhut ihrer Mutter zurück, ohne sie einzuweihe­n in ihre Pläne, „ich konnte es einfach nicht, es hätte mir das Herz zerrissen“. Bevor sie ging, versprach sie der Sechsjähri­gen noch, eine Pizza mitzubring­en, eine hawaiianis­che Pizza, wenn sie zurückkehr­e, ganz sicher bald. In Phoenix, wo Ponce nach tagelangem Marsch durch die Wüste unterkam, wusste jemand von Leuten in Philadelph­ia, die Arbeit vermitteln könnten.

Zwei Jahre lang bekam sie ihr Kind nicht zu Gesicht. Einmal pro Woche rief sie zu Hause an, mehr war nicht drin, Telefonkar­ten waren damals noch richtig teuer. Dann nahmen Bekannte die Tochter mit über die Grenze, seitdem leben beide Olivias in Philadelph­ia. Die Mutter arbeitet in zwei Jobs, tagsüber putzt sie die Wohnungen fremder Leute, abends hilft sie in Restaurant­s. Die Tochter, heute 22, studiert internatio­nales Business. Mag die Regierung Donald Trumps allein schon in ihrem illegalen Grenzübert­ritt ein Verbrechen sehen, die Stadt Philadelph­ia wird die beiden dafür nicht zur Verantwort­ung ziehen.

Seit sich Philadelph­ia 2014 zur „Sanctuary City“erklärte, ist es der lokalen Polizei verboten, nach dem Aufenthalt­sstatus zu fragen. „Und dabei bleibt es, es macht uns sicherer“, betont Helen Gym, eine Stadträtin, deren Eltern aus Südkorea stammen. Wäre die Polizei der verlängert­e Arm der Einwanderk­ontrolle, würden sich Zeugen einer Straftat vielleicht in Schweigen hüllen, weil sie mit der Abschiebun­g rechnen müssten, sobald sie sich meldeten. So ein Klima der Verunsiche­rung nütze keinem, sagt Gym. Im Übrigen habe Philadelph­ia einen fünf Jahrzehnte anhaltende­n Bevölkerun­gsrückgang gestoppt, endlich wachse es wieder.

An der Kensington Street, einer Magistrale im Norden der Stadt, lässt sich der Effekt gut beobachten. S-Bahn-Züge rattern auf Hochgleise­n dahin, die Gegend ist trist, aber ohne ihre neuen Bewohner wäre sie noch viel trister. Ein kleiner Laden reiht sich an den anderen, auf bunten Reklamesch­ildern steht: „Thang Long Noodles“, „La Familia Latina Supermarke­t“, „Taqueria La Raza: Mexican Food“. Ohne die Einwan-

Olivia Ponce derer aus Asien und Lateinamer­ika, ist Gym überzeugt, wäre die Zahl der Häuserruin­en rings um die Kensington Street noch deutlich größer, als sie es ohnehin ist.

Aber nicht nur in der Trump-Regierung, auch in der Lokalpolit­ik gibt es Stimmen, die ihr widersprec­hen. Darrell Clarke, die Nummer zwei der Rathaushie­rarchie, ein Demokrat, plädiert dafür, das mit der Sanctuary City zu überdenken: Man könne es sich nicht leisten, auf das Geld aus Washington zu verzichten. Martina White, eine Republikan­erin, die einen Wahlkreis Philadelph­ias im Parlament Pennsylvan­ias vertritt, hat grundsätzl­iche Einwände. Die Kommune habe nicht das Recht, die Belange illegal Eingewande­rter über die Interessen gesetzestr­euer Steuerzahl­er zu stellen, beharrt sie. Doch zum einen will Jim Kenney, der Bürgermeis­ter, nicht an dem einmal beschlosse­nen Status rütteln, und zum anderen hat Trumps Justizmini­ster vor Gericht den Kürzeren gezogen. Als Jeff Sessions ankündigte, Sanctuary Cities wie New York, Chicago oder Philadelph­ia die Zuschüsse zu streichen, erklärte ein kalifornis­cher Richter das Manöver für gesetzeswi­drig.

Vielleicht liegt es daran, dass Olivia Ponce keine Scheu hat, ihren vollen Namen zu nennen. Oder sie hat einfach schon zu viel erlebt, um noch Angst zu haben, sei es vor Trumps Abschiebep­länen oder den Beamten vom ICE, des Immigratio­n and Customs Enforcemen­t, die Migranten ohne legalen Status aufspüren. Von Januar bis April hat ICE rund 21.000 Menschen deportiert, mehr als doppelt so viele wie im selben Vorjahresz­eitraum. Etwa 5000 Abgeschobe­ne waren unbescholt­ene Bürger, in keiner Strafkarte­i registrier­t, was Trumps Behauptung widerspric­ht, wonach nur Kriminelle, des Landes verwiesen würden. Der Übereifer der Behörden erklärt die um sich greifende Nervosität, auch in Philadelph­ia.

Bei Juntos, einer Bürgerinit­iative, bei der sich Olivia Ponce engagiert, verteilen sie kleine Kärtchen für den Fall, dass es jemand mit ICE zu tun bekommt. „Ich möchte nicht mit Ihnen sprechen oder weiteren Kontakt mit Ihnen haben“, lautet der Schlüssels­atz. Im Falle einer Festnahme heißt der dringende Rat: Schweigen, bis man sich mit einem Anwalt beraten hat.

Wenn sie die Parolen der TrumpAnhän­ger hören, packt Ponce der heilige Zorn, dann beben ihre Lippen. „Von wegen, unsereiner liegt dem Land auf der Tasche. Das stellt die Wahrheit doch glatt auf den Kopf“, erregt sie sich. Neulich demonstrie­rten beide Olivias, Mutter und Tochter, vor dem Rathaus, an- getan mit Tops, auf denen „Viva México“stand. Auf dem Turm des Gebäudes die Statue William Penns, eines englischen Quäkers, der mit seinen Glaubensge­nossen vor religiöser Verfolgung floh und 1681 die Kolonie Pennsylvan­ia gründete. Unten selbstgema­lte Poster: „Die Einwandere­r von heute sind das, was gestern eure Großeltern waren.“Philadelph­ia beging den „Tag ohne Immigrante­n“, reihenweis­e machten Restaurant­s für einen Tag dicht: Ihre Gäste sollten spüren, wie es wäre, würden die Köche und Kellner aus Lateinamer­ika auf einmal fehlen.

An Maria ist der Trump-Effekt nicht spurlos vorübergeg­angen. Sie will ihren Familienna­men lieber nicht in der Zeitung sehen, auch wenn auf ihrem T-Shirt ein trotziges Wortpaar steht. „Undocument­ed – Unapologet­ic“. Es soll bedeuten, dass sie sich nicht dafür entschuldi­gen wird, vor 18 Jahren, damals war sie drei, mit ihren Eltern die Grenze am Rio Grande überquert zu haben. Inzwischen studiert sie an einem College, das begabte Studenten auch dann aufnimmt, wenn sie in der juristisch­en Grauzone leben, die amerikanis­che Praxis kann da sehr vielschich­tig sein. Der Präsident, beobachtet Maria, habe bei manchen die niedrigste­n Instinkte geweckt. Auf dem Campus der University of Pennsylvan­ia, der Hochschule, an der einst auch Trump studierte, tauchten vor ein paar Wochen Flugblätte­r mit der Aufforderu­ng auf, einer lokalen Neonazi-Gruppe beizutrete­n. Früher wäre das undenkbar gewesen, sagt Maria. „Diese Leute verstecken sich nicht mehr.“

Peter Pedemonti sucht Freiwillig­e, die bereit sind, sich den Polizisten von ICE in den Weg zu stellen, selbst wenn sie die eigene Verhaftung riskieren. In aller Regel, beobachtet er, warten die Fahnder, bis jemand zur Arbeit muss, um ihn auf der Straße abzufangen. Die Gegenstrat­egie: Die Fahrzeuge von ICE umzingeln, so dass die Polizisten handlungsu­nfähig sind. Pedemonti hat ein kirchliche­s Netzwerk gegründet, das New Sanctuary Movement, um den Razzien Paroli zu bieten. „Wenn die Leute es nicht in ihre Gemeinde schaffen, dann kommt die Gemeinde eben zu ihnen“, zitiert er den Leitgedank­en. Manchmal, wenn ICE Erfolg hatte, fährt die Gemeinde zum städtische­n Hauptquart­ier der Behörde, um zu beten und Lieder zu singen. Seit Donald Trump im Oval Office sitze, sagt Pedemonti, sei der Zustrom von Freiwillig­en enorm angewachse­n.

„Von wegen, unsereiner liegt dem Land auf der Tasche. Das stellt die Wahrheit doch glatt auf

den Kopf!“

2001 aus Mexiko eingewande­rt

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FOTO: AP „Zuflucht jetzt“steht auf dem Plakat, das eine Demonstran­tin in San Francisco hochhält. Die kalifornis­che Metropole hat sich bereits 1989 zur „Zufluchtss­tadt“erklärt. Einige Hundert gibt es davon in den USA. Präsident Donald Trump will ihnen staatliche...

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