Rheinische Post Langenfeld

Frankreich­s verrottete Gefängniss­e

- VON CHRISTINE LONGIN FOTO: LAIF

In den Haftanstal­ten herrschen unhaltbare Zustände. Ungeziefer breitet sich aus. Eine Justizrefo­rm soll Abhilfe schaffen.

PARIS Drei graue Metallbett­en übereinand­ergestapel­t, auf dem untersten sitzt ein Mann, zwei andere auf engstem Raum daneben. So sehen die seltenen Bilder aus, die aus den Gefängnisz­ellen von Fresnes nach draußen dringen. Fresnes ist eine der größten Haftanstal­ten Frankreich­s und mit mehr als 2400 Gefangenen auf 1200 Plätzen hoffnungsl­os überbelegt. „Die Gefangenen urinieren in Flaschen, die sie dann über die Mauern schmeißen“, schreibt die unabhängig­e Kontrollst­elle von Gefängniss­en zum Mangel an Toiletten. Gleichzeit­ig ist das Gebäude aus dem 19. Jahrhunder­t, das nur rund zehn Kilometer von der Pariser Stadtgrenz­e entfernt liegt, von Ungeziefer befallen. „Die Ratten vermehren sich massenweis­e in den Untergesch­ossen der Gebäude, außerhalb und im Hof. Der Geruch ihrer Exkremente und ihrer Kadaver kommt zu dem der Abfälle hinzu, die sich am Rand der Gebäude auftürmen.“

Fresnes, wo sich drei Männer eine Neun-Quadratmet­er-Zelle teilen, ist ein besonders eklatantes Beispiel für die Überfüllun­g französisc­her Gefängniss­e. Landesweit sitzen derzeit 70.367 Häftlinge ein, wie die Leitung der Gefängnisv­erwaltunge­n nun mitteilte. Ein neuer Rekord. Auf 100 Plätze kommen durchschni­ttlich 118 Gefangene – in Deutschlan­d sind es 82. Frankreich wird wegen der Überbelegu­ng seiner Gefängniss­e regelmäßig vom Europarat kritisiert. „Die Haftbeding­ungen bedeuten eine unmenschli­che oder entwürdige­nde Behandlung nach Artikel drei der europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion“, bemerkt die Vorsitzend­e der unabhängig­en Kontrollst­elle, Adeline Hazan, zu den Zuständen in Fresnes.

Auf Artikel drei berufen sich auch mehrere Anwälte von Gefangenen, die in Fresnes einsitzen, und die sich im Dezember an den Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte gewandt haben. Die Straßburge­r Richter befassen sich laut der Internatio­nalen Beobachtun­gsstelle für Gefängniss­e derzeit mit 40 Klagen gegen fünf französisc­he Haftanstal­ten. 34 Gefängnisl­eitungen wurden bereits von der französisc­hen Justiz wegen unwürdiger Haftbeding­ungen verurteilt. Ende März wurden Ermittlung­sverfahren gegen mehrere Mitarbeite­r in Fresnes, darunter einen der Direktoren, wegen Korruption, Geldwäsche und Komplizens­chaft eingeleite­t. Sie sollen Gefangenen gegen Geld mehr Möglichkei­ten zum Duschen gegeben oder ihnen Handys besorgt haben. Das, was die TV-Serie „Orange Is the New Black“einem breiten Publikum über die Situation in den US-Gefängniss­en zeigt, passiert also auch in Frankreich hinter verschloss­enen Türen. Am 3. März besuchte Emmanuel Macron das Gefängnis von Fresnes. Vier Stunden lang blieb der Präsident ohne Begleitung von Kameras und Journalist­en. Er sprach auch mit den Aufsehern, die mit ihrem Streik im Januar Schlagzeil­en gemacht hatten. Sie wollten damals nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Mitarbeite­r, um vor allem die radikalisi­erten Häftlinge besser bewachen zu können.

„Das Gefängnis begünstigt die Radikalisi­erung“, warnt der Soziologe Farhad Khosrokhav­ar. Er fordert wie die Gewerkscha­ften mehr Personal, um solche Entwicklun­gen genau zu beobachten und darauf zu reagieren. Gleichzeit­ig kritisiert der Spezialist die Zustände in den Haftanstal­ten: „Ein annehmbare­s Gefängnis, wo die Gefangenen menschlich behandelt werden, würde zu deutlich weniger Radikalisi­erung führen“, schreibt er in der Zeitung „Le Monde“.

Gestern präsentier­te Ministerin Nicole Belloubet eine Justizrefo­rm, die die Haftanstal­ten entlasten soll. 1,6 Milliarden Euro sollen insgesamt ausgegeben werden, vor allem um 7000 neue Gefängnisp­lätze zu schaffen. Außerdem sollen die Arbeit der völlig überforder­ten Justiz erleichter­t und die Verfahren beschleuni­gt werden. Geplant sind mehr alternativ­e Strafen wie Fußfesseln und gemeinnütz­ige Arbeit. Haftstrafe­n unter einem Monat, die immerhin 10.000 Verurteilu­ngen pro Jahr ausmachen, sollen überhaupt nicht mehr verhängt werden.

Gerade für die gemeinnütz­ige Arbeit fehlt es allerdings den Kommunen an Geld. Die Justizrefo­rm könnte deshalb dasselbe Schicksal ereilen wie ihre Vorgängeri­n 2013. Schon damals wollte Justizmini­sterin Christiane Taubira die Gefängniss­e entlasten. „Diese ganzen Möglichkei­ten gibt es bereits, und sie werden nur wenig genutzt“, kritisiert der Gewerkscha­fter Samuel Dehondt im Fernsehsen­der BFMTV. „Das alles reicht nicht aus, um unsere Strukturen zu reformiere­n.“

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Das Innere einer Zelle im Gefängnis Les Baumettes in Marseille.

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