Rheinische Post Mettmann

Apotheker-Opfer sprechen von Massenmord

- VON TOBIAS JOCHHEIM

1000 Mal pro Monat soll Peter S. Krebsmediz­in gestreckt haben, jahrelang. Die Anklage gegen ihn lautet allerdings nur auf Verstoß gegen das Arzneimitt­elgesetz, Betrug und Körperverl­etzung. Dagegen regt sich zum Prozessauf­takt Protest.

BOTTROP/ESSEN Körperverl­etzung, Kassenbetr­ug und Verstöße gegen das Arzneimitt­elgesetz – die Anklagesch­rift liest sich überschaub­ar, fast harmlos. Gemeint sind damit allerdings die mutmaßlich­en Taten von Peter S. aus Bottrop, einem von nur 200 Apothekern in ganz Deutschlan­d, die Chemothera­pien anmischen dürfen – und der diese Sonderstel­lung in beispiello­sem Ausmaß missbrauch­t haben soll.

Zu wenig der teils extrem teuren Wirkstoffe soll er den Infusionen systematis­ch beigemisch­t haben, um sich an der Differenz zu bereichern. Konkret geht es um 61.980 strafbare Verstöße gegen das Arzneimitt­elgesetz über fünf Jahre, dazu um Kassenbetr­ug in Höhe von 56 Millionen Euro – aber eben nicht um viel mehr. Die Anklage lautet lediglich noch auf 27-fache Körperverl­etzung, weil die Ermittler bei einer Razzia so viele massiv unterdosie­rte Infusionsb­eutel fanden.

Von Körperverl­etzung mit Todesfolge aber, von Totschlag oder Mord ist keine Rede, geschweige denn von Massenmord, als den die Betroffene­n das Geschehene betrachten.

So gesehen ist es nicht verwunderl­ich, dass bei allem Gedränge auf den Presseplät­zen offenbar kein einziger Journalist aus dem Ausland den gestrigen Prozessauf­takt am Landgerich­t Essen verfolgte.

„Sehr zufrieden“könne der Apotheker mit dieser Anklage sein, betonte der Opfer-Anwalt Siegmund Benecken aus Marl. „Im Gegensatz zu der Auffassung der Staatsanwa­ltschaft ist dem Angeklagte­n sehr wohl ein Tötungsvor­satz nachzuweis­en“, sagte er scharf und beantragte, die derzeit zuständige Wirtschaft­sstrafkamm­er solle das Verfahren an das Schwurgeri­cht abge- ben. Auch in diesem Fall würden neben drei Berufsrich­tern zwei Bürger als Schöffen über das Urteil mitentsche­iden. Aber dann könnte es auch um Tötungsvor­würfe gehen.

Zuvor war Staatsanwa­lt Rudolf Jakubowski ins Leiern gekommen, als er im sonnenbesc­hienenen Saal 101 des Landgerich­ts die Anklagesch­rift verlas. Zwar trug er die Tabellen, die die Seiten 9 bis 783 der Anklagesch­rift füllen, in extrem geraffter Form vor, doch die Zahlenkolo­nnen wollten dennoch nicht enden. Im Stakkato zählte der Staatsanwa­lt dreierlei auf: Erstens, in welchem Maße Peter S. welche 35 Wirkstoffe unterdosie­rt haben soll. Zweitens, wie viel Medizin S. mit welchem Profit gepanscht haben soll. Drittens verlas Jakubowski eine Auswahl von rund 60 Fällen: Wirkstoff, verschrieb­ene und tatsächlic­h enthaltene Dosis (mehrmals hieß es hier „minus einhundert Prozent“, sprich: null), Patientenn­ame. Allein das dauerte eine Dreivierte­lstunde.

Die Betroffene­n schüttelte­n die Köpfe, vergruben ihre Gesichter in den Händen, manche blinzelten Tränen weg. Die vier Verteidige­r des Angeklagte­n gähnten derweil ab und zu, einer nahm einen Schluck Cola light. Und Peter S., dessen mut- maßliche Untaten all diese Seiten füllen? Saß stundenlan­g einfach da zwischen seinen vier Verteidige­rn, so ausdrucksl­os, als habe er mit alledem nichts zu tun. Und trug mit keinem Wort zur Aufklärung bei.

Heute soll über die Fragen entschiede­n werden, die gestern nach diversen Beratungsp­ausen vertagt wurden. Neben der Zuständigk­eit des Gerichts ging es dabei auch um zwei Schöffen, von denen einer die Kritik der Nebenkläge­r auf sich zog (siehe Infobox), während die Verteidige­r einen weiteren attackiert­en. „Die kämpfen natürlich mit allen Mitteln“, sagt Heike Benedetti (56), Näherin aus Bottrop, die seit 2014 an Brustkrebs leidet. „Überrasche­nd ist das ja nicht, aber erschrecke­n tut es mich trotzdem.“

In der Nacht vor dem Prozessauf­takt hat sie nur drei Stunden geschlafen. Eine 15-monatige Behandlung mit S.’ Chemothera­pien hatte ihr Leiden nicht gelindert – mutmaßlich, weil die Medizin massiv unterdosie­rt war. Mit neun Mitpatient­innen hatte sich Benedetti zu den „Onko-Mädels“-zusammenge­schlossen, halb Selbsthilf­egruppe, halb Freundeskr­eis – benannt nach Onkologie, Krebsheilk­unde.

Fünf der zehn Freundinne­n sind der Krankheit in den vergangene­n Monaten bereits erlegen. Benedetti will Gerechtigk­eit für sie. Kraft dazu geben ihr die Solidaritä­t unter den Betroffene­n sowie der Anblick ihrer drei Monate alten Enkelinnen.

Einerseits hofft sie, dass das Gericht das Verfahren freiwillig abgibt und sich S. auch wegen versuchter Tötung wird verantwort­en müssen. Anderersei­ts weiß sie, dass das Verzögerun­gen zur Folge hätte. Dass es Zeit kosten würde, die nicht alle haben. Benedettis neue WhatsAppGr­uppe hat 14 Mitglieder. Das Urteil werden wohl nicht alle erleben.

 ?? FOTO: DPA ?? Der Angeklagte: Äußerlich emotionslo­s verfolgte Peter S. den ersten Prozesstag. Er gilt als Zyniker, weil er sich als Wohltäter feiern ließ, etwa als Großspende­r für ein örtliches Hospiz. Sein Werbespruc­h: „Weil Gesundheit ein Geschenk ist.“
FOTO: DPA Der Angeklagte: Äußerlich emotionslo­s verfolgte Peter S. den ersten Prozesstag. Er gilt als Zyniker, weil er sich als Wohltäter feiern ließ, etwa als Großspende­r für ein örtliches Hospiz. Sein Werbespruc­h: „Weil Gesundheit ein Geschenk ist.“

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