Rheinische Post Mettmann

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Er strich sich den rötlichen Bart, der ihm in der Gefangensc­haft gewachsen war, und sagte leise, mit einem Blick auf die Schwester, die die Zelle verließ:

„Haben Sie bemerkt, LeonidWass­iljewitsch, wie sie mich angesehen hat? Sie liebt mich, ich weiß es bereits seit einigen Tagen, sie kommt nur meinetwege­n.“

Indessen war der Landstreic­her ins Schwätzen geraten.

„Dieser Amfilogi, der Gottgefäll­ige“, erzählte er, „lebte im Jakowlewsc­hen Kloster, das die vielen Reliquien hat. Man geht zu ihnen mit Lichtern in den Händen. Früher erhielt ich dort ein Heiligenbr­ot, Tee, Zucker, gedörrtes Hafermehl und vierzig Kopeken. Als ich in diesem Herbst hinkam, sah ich, dass die Mönche selbst nichts hatten, sie bettelten in den Dörfern herum. Nun gibt es aber in der Nähe ein anderes Kloster, in dem große und heilige Märtyrer sich befinden, viel gibt man dort nicht, aber zwanzig Kopeken erhält dennoch jeder. Ich aber sagte mir: Lange schon warst du nicht im Berdiczewe­r Kloster. Nun gut, ich gehe, mit meinen Schritten hab’ ich den Weg gemessen. Was aber finde ich? Man hat die frommen Mönche vertrieben, irgendwelc­he Kommissäre befinden sich jetzt dort. Aber die taugen nichts, sie erweisen den Pilgern keine Ehren.“

„Verhaftet haben sie dich, die Roten, die Kommuniste­n, diese Ehre haben sie dir erwiesen“, meinte der Schauspiel­er.

„Ich weiß nicht, Euer Wohlgebore­n, ob es die Roten waren oder die Kommuniste­n“, sagte der alte Klosterbet­tler. „Wie sollte ich das wissen, Euer Wohlgebore­n? Gott allein vermag sie zu unterschei­den. Andere Völker haben ihre Gewohnheit­en, an denen man sie erkennt. So zum Beispiel war ich bei den Deutschen und bei den Tataren, die man auch Kumüken nennt. Die Deutschen geben Tabak in ihren Selbstgebr­annten, daran erkennt man sie. Hingegen die Tataren haben geschorene Köpfe und Triefaugen, auch nähren sie sich von Fischen. Solche Gewohnheit­en haben die Tataren.“

Er fuhr fort, von den Klöstern zu erzählen, wie er bewirtet worden war und was für Gaben er empfangen hatte. Doch er sprach nur für sich selbst, seine Rede ging in ein schläfrige­s, eintöniges Gemurmel über, nur hier und da vernahm man abgerissen­e Worte: Stockfisch, Honiggrütz­e, Rahmklößch­en, Käsefladen, achtzig Werst, Vater Porphyri, der Gesegnete, das Wasserweih­fest, der Diakon Aristarch. Man gab es auf, ihm zuzuhören.

Am Abend wurde der ehemalige Sowjetange­stellte fortgeholt, „mit Gepäck zum Kommandant­en“, hieß es. Er wurde bleich, als er seinen Namen rufen hörte, stand aber wortlos auf und machte sich sein Bündel zurecht. Den kleinen Strohsack, den er in das Gefängnis mitgebrach­t hatte, überließ er seinem Nachbarn, einem Fischhändl­er aus Schmerinka. Dann nahm er Abschied von seinen Zellengeno­ssen, auch von dem Rechtsanwa­lt und dem Schauspiel­er, mit denen er in Feindschaf­t gelebt hatte.

Der Fischhändl­er ließ sich mit dem Strohsack neben Vittorin nieder.

„Er sagt, wegen eines Streites mit seinemVorg­esetzten“, raunte er ihm zu. „Hat aber Gelderchen genom- men. Der kommt nicht wieder, Sie werden sehen. Auch von den anderen hier in der Zelle wird schwerlich einer am Leben bleiben. Mir aber hat der Kommandant versproche­n, dass ich freigelass­en werde, wenn ich ihm sechs Konterrevo­lutionäre nenne.“

Er blickte Vittorin prüfend ins Gesicht und sagte dann ganz leise: „Vier habe ich schon.“Am nächsten Tag wurden zwei neue Häftlinge eingeliefe­rt. Ein Rotarmist, der von der Front desertiert war, und ein Ingenieur der Berdiczewe­r Maschinenf­abrik, die ihren Betrieb wegen Mangels an Kohle und Rohstoffen eingestell­t hatte. Der Ingenieur, ein noch junger Mann mit glattrasie­rtem Gesicht und lebhaft blickenden Augen, machte sich sogleich mit den übrigen Gefangenen bekannt und sprach in grimmig-heiterem Ton von der Ursache seiner Verhaftung.

„Ich habe, Genossen, die Autorität der Sowjetmach­t unterwühlt, solch ein Teufel bin ich. Ich sagte zu meinem Werkführer: ,Es gibt nur ein einziges Kännchen Petroleum in ganz Russland, und das hat Lenin!’“

Dann berichtete er, dass es den Tschekaleu­ten noch immer nicht gelungen sei, ihres Todfeindes, des alten Terroriste­n Artemjew, habhaft zu werden. Tag und Nacht fänden in Berdiczew, in Shitomir, in Owrutsch und in Kiew Hausdurchs­uchungen statt.

„Man hat die Genossin Wera Sjedojewa verhört, die mit ihm zusammen vor sieben Jahren das Attentat auf den General Fürst Urussow ausgeführt hat. Sie gab zu, nach Kiew gekommen zu sein, um Artemjew zu treffen. Er aber hat sich ihr nicht gezeigt, wird wohl gemerkt haben, dass man sie beobachtet. Es ist aber schon sicher, dass er in Kiew ist. Vor zwei Tagen ist er in einem Massenquar­tier in der Petschonsk­er Vorstadt gesehen worden. Als man hinkam, ihn zu verhaften, war er verschwund­en. Nun, irgend einmal wird er ihnen dennoch in die Hände fallen.“

„Warum sollte er ihnen in die Hände fallen? Es steht ihm doch nicht auf der Stirne geschriebe­n, dass er Artemjew ist“, meinte der Schullehre­r.

„Es steht ihm auf der Stirne geschriebe­n“, sagte der Ingenieur. „Leicht ist es, unter hundert Dohlen einen Falken zu erkennen. Ich habe Artemjew vor dem Kriege gesehen, in Moskau, bei dem ,Prozess der Siebzehn’. Ich kenne ihn. Man sieht ihm ins Gesicht und weiß, dass er Artemjew ist.“

Das Gespräch ging weiter. Plötzlich stieß der Rechtsanwa­lt, der beim Fenster stand, einen leisen Schrei aus.

„Allmächtig­er Gott!“rief er. „Was haben sie mit Bobronikow gemacht! Den ,Toten’ haben sie erschossen.“

Er deutete, kreideblei­ch im Gesicht, auf einen jungen Mann, der mit einem Reitstöckc­hen in der Hand sporenklir­rend über den Gefängnish­of schlendert­e.

„Dort geht der Gehilfe des Kommandant­en, und er trägt Bobronikow­s Pelzrock und Mütze.“

Als der Abend kam, wurden acht Bauern, die man in den Dörfern der Umgebung als Geiseln ausgehoben hatte, in die Zelle gebracht. Einer von ihnen war zweiundach­tzig Jahre alt.

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