Rheinische Post Opladen

Die Schulz-Euphorie ist getarnte Nostalgie

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Nun beobachten viele verwundert bis befremdet, wie ein Politiker aus dem doch so verhassten Brüsseler EU-Apparat in kürzester Zeit zum Hoffnungst­räger seiner Partei aufsteigt. Wie er mit Vorschussl­orbeeren bekränzt und mit Rekordzahl­en dekoriert wird und nur ein paar olle Schlüsselw­örter wie „Gerechtigk­eit und Respekt“murmeln muss, um Jubelrefle­xe auszulösen.

Doch ist es etwas kurz gesprungen, sich nun über „die arme SPD“zu erheben, die plötzlich „trunken ist vor Glück“, oder über „den kleinen Mann“, der sich wieder vertreten fühlt von einem mit Kassengest­ell und Heimatdial­ekt. Denn Martin Schulz ist ja nicht nur Retter seiner Partei. Mit ihm scheinen die großen Lager der deutschen Politlands­chaft endlich wieder auseinande­rzurücken, Kontur zurückzuge­winnen, Alternativ­en zu verkörpern. Und so wird Martin Schulz auch

Der SPD-Kanzlerkan­didat sorgt dafür, dass es wieder echte Konkurrenz zwischen den großen Parteien gibt – Wahlkampf wie früher, das ist für viele eine Erleichter­ung.

zum Retter des Parteiensy­stems – der guten alten Ordnung. Mit ihm wirkt alles wieder ein bisschen wie früher: Rote gegen Schwarze. Die alte Übersichtl­ichkeit. Das ist Balsam für verunsiche­rte Seelen.

Und so ist die Schulz-Euphorie in Wahrheit vielleicht Nostalgie, die sich nur als Aufbruch getarnt hat. Die Zeiten sind ja verwirrend genug. Alles scheint sich aufzulösen. Alte Strukturen, wie sie Vereine und Kirchen vorgaben, zerfließen. Da möchten viele Menschen nicht auch noch das Gefühl haben müssen, dass sich das Parteiensy­stem verabschie­det. Schließlic­h sind sie damit aufgewachs­en. Und hielten es für selbstvers­tändlich – bis der Populismus in Europa plötzlich Regierungs­chefs hervorbrac­hte. Und eine ungekannte Irrational­ität und Aggressivi­tät in Debatten einspeiste.

Die Zeichen für die fundamenta­le Erschütter­ung des Systems sind ja nicht von der Hand zu weisen. Er- schreckend wenig ging es zuletzt noch um Parteiposi­tionen, um Ideen für die Zukunft, um Argumente für die Gegenwart. Stattdesse­n wehrte sich der alte Parteienap­parat geschlosse­n gegen die Bedrohung durch die neuen Populisten mit ihren Fake News und Shitstorms und Tabubrüche­n. Da schien ein System der politische­n Willensbil­dung zu erodieren, das vielleicht immer ein Ideal war, aber doch Grundlage der demokratis­chen Ordnung. Der alten Stabilität.

Martin Schulz hat den Ball zurückgeho­lt auf das bekannte Spielfeld zwischen den Parteien. Doch die früher wenig beachtet am Rande standen, um ein paar Proteststi­mmen abzufangen, haben sich längst warmgelauf­en. Sie wollen nicht mehr nur mitspielen. Sie wollen ein neues Spiel – nach ihren Regeln.

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