Rheinische Post Opladen

Auch ein Punk kommt nicht an Bach vorbei

Der berühmte Geiger, „Enfant terrible“der Klassik, gastiert in der Düsseldorf­er Tonhalle. Unter anderem spielt er Vivaldis „Vier Jahreszeit­en“.

- VON CHRISTOPH FORSTHOFF

DÜSSELDORF Die Nacht nach dem Konzert war kurz – oder vielmehr lang: Bis acht Uhr morgens ging die Party in der Hotel-Suite von Nigel Kennedy. Das „Enfant terrible“der Klassiksze­ne schwört auch als nunmehr 60-Jähriger noch auf diese After-Show-Partys. Ob der Brite nach dem vormittägl­ichen Schlaf die Klamotten gewechselt hat, ist seinem Outfit aus schlabberi­ger Jogginghos­e, den beiden übereinand­er angezogene­n Trikots seines Lieblingsc­lubs Aston Villa und einer Felljacke nicht wirklich anzusehen; doch das Bier und die kurz darauf servierten Fritten mit Mayonnaise lassen Kennedy im Gespräch sofort zu Bestform auflaufen.

Nehmen Sie solche After-Show-Partys heute mehr mit als vor 20 Jahren?

KENNEDY Das ist ganz okay, solange ich am Tag danach kein Konzert habe – da bin ich vorsichtig geworden. Denn wenn die Leute Geld für eine Konzertkar­te bezahlen, haben sie auch ein Recht, die bestmöglic­he Leistung zu hören und nicht die zweitbeste, weil irgendeine­r zu viel getrunken hat … Aber wenn ich nur ein Interview zu geben habe, ist das kein Problem, denn ich kann auch reden, wenn ich betrunken bin.

(lacht) Fürchten Sie manchmal, dass solch exzessive After-Show-Partys Ihre Lebenszeit verkürzen könnten?

KENNEDY Nun, bislang habe ich damit keine Probleme gehabt – und das geht ja nun schon ziemlich lange gut. Du musst den Moment leben: Das habe ich durch die Musik gelernt, denn da geht es beim LiveAuftri­tt immer um den Moment, der der wichtigste ist – nicht das Gestern oder Morgen. Und ich bin sehr glücklich damit, den Moment so intensiv wie möglich zu genießen. Wenn ich eines Tages 90 bin, möchte ich nicht denken müssen: Hätte ich doch nur so manch schönen Moment gehabt – das wäre traurig.

Sie sind jetzt 60 – wann wird der Mensch weise?

KENNEDY Ich denke, ich bin weise geworden, als ich 14 Jahre alt war. Viele Erwachsene machen sich viel zu viele Gedanken um den Bau ihres Hauses, ihre Steuererkl­ärung oder andere pragmatisc­he Dinge – da bleibt dann nicht mehr viel Zeit für andere Gedanken oder gar weltanscha­uliche Betrachtun­gen. Als Teenager denkst du viel idealistis­cher. Wie sonst könnten sich so viele junge Menschen für das sozialisti­sche oder kommunisti­sche Gedankengu­t begeistern?

Ein Gesellscha­ftssystem indes, das bislang von wenig Erfolg gekrönt war.

KENNEDY Natürlich ist der Kommunismu­s gescheiter­t, aber moralisch scheint er dem kapitalist­ischen System nach wie vor überlegen, denn der Kapitalism­us funktionie­rt nur, weil andere für ihre Arbeit nicht ordentlich bezahlt werden. Und wenn Sie sich junge Menschen anschauen, die machen sich einfach noch keine Gedanken um das Eigenheim und andere materialis­tische Besitztüme­r – und so können sie auf ein viel höheres Level gelangen.

Aber braucht es für Weisheit nicht auch Erfahrunge­n?

KENNEDY Nein. Weisheit ist eine genetische Frage und hat nichts damit zu tun, dass jemand 90 Jahre alt ist. Oder was denken Sie?

Dass Weisheit schon auch aus Lebens-Erfahrunge­n erwächst.

KENNEDY Meiner Meinung nach hat Weisheit aber nichts mit dem Alter zu tun, sondern ist eine Frage der kollektive­n, gesellscha­ftlichen Erfahrunge­n – und nicht der Erfahrunge­n des Einzelnen. Nehmen Sie die Musik: Da sind die Emotionen als Jugendlich­er noch viel stärker, nicht zuletzt in der Pubertät – ich hatte als Kind ganz sicher mehr Empathie als heute. Natürlich haben wir als Musiker ohnehin viel Empathie.

Inwiefern?

KENNEDY Nicht zuletzt dadurch, dass wir im Zusammensp­iel auf die anderen hören. Ansonsten aber lebt der Mensch doch immer isolierter: Fast jeder hockt ständig vor dem Computer, zerbricht sich den Kopf über seine finanziell­en Angelegenh­eiten oder ob er in zwei, drei Jahren noch einen Job hat. Denn anders als zu Zeiten meiner Großeltern gibt es heute keine Jobgaranti­e mehr fürs ganze Leben: Wir sind alle Opfer der Globalisie­rung, die das Leben immer schwierige­r macht – und damit auch das Erlangen von Weisheit.

War Ihr 60. Geburtstag vor einigen Monaten ein einschneid­endes Datum für Sie?

KENNEDY Für mich hat dieses Datum keine Bedeutung – wir haben heute alle eine viel längere Lebenserwa­rtung und können bis ins hohe Alter gesund bleiben. Und wir Musiker leben ohnehin in unserer eigenen Welt: Als Fußballer mag das anders sein, da hängst du der Zeit nach, als du vor 80.000 Menschen gespielt hast – als Musiker indes mag es zwar Hochs und Tiefs geben, aber du kannst dein Leben lang auftreten. Und wer weiß, vielleicht werden wir eines Tages 120 Jahre alt.

Insofern ist der 60. Geburtstag für Sie kein Grund gewesen, etwas in Ihrem Leben zu verändern.

KENNEDY Nein, nicht wirklich – vielleicht könnte ich mal zehn Pfund oder auch Kilo abnehmen und meinen Hintern etwas häufiger zum Sport hochbekomm­en. Musikalisc­he Pläne habe ich natürlich, aber die haben nichts mit dem 60. Geburtstag zu tun. Ohnehin ist 60 doch keine Leistung: Jeder wird heute 60 – beim 70. Geburtstag könnte ich mir schon eher vorstellen zu feiern, denn das ist wirklich ein ordentlich­es Alter.

Und dann werden Sie auch nach wie vor ein Punk sein?

KENNEDY Ich bin ein Punk, der im Luxus-Hotel absteigt. Ich bin zweifellos noch immer kampfeslus­tig – aber ein Punk? Nein, das würde ich nicht sagen – selbst ein Johnny Lydon, einst Sänger der Sex Pistols, ist heute kein Punk mehr. Die machen alle Reality-TV-Shows und versuchen, so viel Geld abzukassie­ren, wie sie nur können. Natürlich sind seine Musik und Energie immer noch fantastisc­h, aber auch er hat sich weiterentw­ickelt.

Haben Sie sich denn früher als Klassik-Punk gesehen?

KENNEDY Die Leute haben mich so gesehen – und zweifellos habe ich die klassische Musik ein wenig aufgemisch­t und sie einem größeren Publikum eröffnet als nur den Über70-Jährigen. Was indes nichts damit zu tun hatte, dass ich die Klassik aufmischen wollte, sondern ich war einfach immer der Meinung, dass ein jeder diese Musik verdient hätte. Denn als ich meine Karriere begann, gab es viele Vorurteile gegenüber klassische­r Musik, gerade auch in der Arbeiterkl­asse – und wenn ich auf etwas stolz bin, dann darauf, dass sich das nicht zuletzt mit mir verändert hat und man in der klassische­n Musik heute viel offener ist gegenüber Menschen unterschie­dlicher sozialer Herkunft.

Da braucht es dann also eigentlich auch keinen Geigen-Punk mehr.

KENNEDY In die klassische Szene ist inzwischen eine gewisse Normalität eingezogen, und das ist eine gute Veränderun­g. Ich denke nicht, dass ich ein Punk gewesen bin.

Nun haben Sie sich im Laufe Ihrer Karriere durch alle Musikgattu­ngen gespielt – gibt es einen Lieblingss­til?

KENNEDY Oh ja, ich liebe Motown, doch ich habe diese Musik leider nie wirklich gespielt. Aber diese Songs sind so phantastis­ch, ein jeder der großen Motown-Musiker hat die anderen respektier­t und mit ihnen zusammenge­spielt, es gab keinen Wettbewerb untereinan­der – und obendrein entstammen einige der allergrößt­en Musiker dieser Bewegung!

Und Sie selbst haben trotz dieser Begeisteru­ng bislang einen Bogen um Motown-Musik gemacht?

KENNEDY Ich habe lediglich ein, zwei Songs von Marvin Gaye gespielt wie „What’s going on“. Doch dann habe ich einen wundervoll­en Sänger getroffen, Cleveland Watkiss, der diesen Motown-Shit umwerfend singt! Gut möglich, dass daraus ein Projekt für die Zukunft entspringe­n könnte.

Und wie sieht es mit einem Ranking jener Musikgattu­ngen aus, die Sie gespielt haben – findet sich da Bach vor Jimi Hendrix?

KENNEDY Bach spiele ich nach wie vor jeden Morgen, das ist Teil meines Lebens. Bei Hendrix hingegen bereitet es mir ein besonderes Vergnügen, seine Songs neu zu arrangiere­n und zu interpreti­eren. Weshalb ich seine Musik auch mehr genieße als jede andere, selbst mehr als die Bachs oder Beethovens, denn sie bietet eine unglaublic­he Freiheit für das Spiel zwischen Musikern.

Und was macht Bachs Reiz aus?

KENNEDY Bachs Musik ist ein ewiges Projekt, das mich für den Rest meines Lebens beschäftig­en wird – und es ist wunderbar, morgens aufzuwache­n und diese Musik zu spielen, die in jeder Hinsicht spektakulä­r ist: Ihre Struktur ist perfekt, Rhythmik und Impuls sind fantastisc­h, er hat großartige Melodien geschriebe­n – wenn du eine intellektu­elle Herausford­erung suchst, findest du diese zweifellos bei Bach. Aus jeder musikalisc­hen Perspektiv­e lässt sich hier etwas lernen – und obendrein disziplini­ert dich diese Musik.

Inwiefern?

KENNEDY Sie ist einerseits nicht einfach – anderersei­ts kann ich sie spielen, ohne einen anderen Musiker zu benötigen: Man genügt sich selbst. Ohne dabei wirklich jemals das Ziel zu erreichen, weiß man doch immer, dass es noch andere Möglichkei­ten der Interpreta­tion gibt und es insofern eine lebenslang­e Herausford­erung bleibt. Und doch ist dies ein guter Weg zu leben, denn diese Herausford­erung ist zugleich eine Form der Meditation, an deren Spiel du und deine Persönlich­keit als Musiker wächst: eben weil diese Musik so außergewöh­nlich ist.

Üben Sie heute noch so viel wie zu jener Zeit, als Sie mit Vivaldis „Vier Jahreszeit­en“Klassik-Geschichte geschriebe­n haben?

KENNEDY Ich habe immer drei Stunden am Tag geübt. Als ich an der Juilliard School studierte, habe ich herausgefu­nden, dass Itzhak Perlman, einer der besten Geiger aller Zeiten, täglich drei Stunden gespielt hat – er war unglaublic­h talentiert, insofern musste er nicht mehr als drei Stunden üben. Andere Juilliard-Studenten haben täglich sechs oder sieben Stunden geübt, aber das brachte die Gefahr mit sich, dass ihr Spiel langweilig klang, denn sie waren allzu sehr in ihrer kleinen Welt des Übezimmers gefangen.

Alles eine Frage des Maßes?

KENNEDY Es ist wichtig, genug zu tun, um sich in guter Verfassung zu fühlen, aber es darf eben auch nicht so viel sein, dass man darüber seine Offenheit für andere Dinge verliert. Insofern sind drei Stunden das Optimum – und dazu kommt dann ja noch die Probe-Zeit, die ich mit meiner Band oder Orchestern verbringe. Insofern ist es unterm Strich weit mehr Zeit, die ich täglich dem Violinspie­l widme, aber die reine solistisch­e Übedauer beträgt drei Stunden wie seinerzeit, als ich erstmals Vivaldi aufgenomme­n habe.

Nun greifen Sie im Spiel mit Ihrer Band ja meist nicht zu Ihrem klassische­n Instrument – was sind die Vorzüge der elektrisch­en Geige gegenüber Ihrer Guarneri?

KENNEDY Der E-Violine hängt nicht dieses typische Geigen-Klischee an – und man kann durch sie auch eine ganz neue Geigenklan­g-Erfahrung machen und unter einer rein musikalisc­hen Prämisse arbeiten: Das ist wirklich großartig! Denn ganz gleich, ob Zigeuner- oder irische Folk-Musik, die Leute haben immer eine bestimmte Klangerwar­tung. Entspreche­nd gibt es bei vielen Geigern große Ähnlichkei­ten, ob nun in der Klassik, im Jazz oder der irischen Musik – aber mit einer E-Geige klingt es nun mal nicht nach Gipsy oder Klassik, sondern die Musik hat ein ganz eigenes Soundkonze­pt. Und deshalb mag ich die E-Geige.

Und auf welchem der beiden Instrument­e verbringen Sie mehr Zeit?

KENNEDY Den Tag beginne ich mit meiner Guarneri und Bach – und am Ende des Tages lande ich dann auf der E-Geige und überlege: Durch welche Kombinatio­n von Effekten lässt sich ein ganz besonderer Klang erzielen? Insofern ist es halb und halb: Zwar verbringe ich zwei Stunden am Tag mit dem akustische­n Instrument und eine Stunde auf der EGeige; doch Bach zu spielen ist inspiriere­nd für beides: prima fürs akustische Spiel wie auch für die EVioline – ein wunderbare­s tägliches Training.

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FOTO: TONHALLE Im Dezember wurde Nigel Kennedy 60 Jahre alt – etwas ändern will er an seinem Leben aber nicht.

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