Abgrund
Hat jemand was darüber gehört?“, fragte Carol in die Runde und erhielt als Antwort nur ein Kopf- schütteln.
„In der Station haben viele gar nichts mitbekommen“, sagte Lieke.
„Vielleicht weiß die Wirtin ja etwas“, sagte Anne. „Carol, du sprichst doch so gut Spanisch. Frag sie doch mal.“
Ohne eine Reaktion abzuwarten, winkte sie der Frau zu, die gerade eine Bestellung von zwei indianisch aussehenden Männern aufnahm. Kurz darauf trat sie zu ihnen an den Tisch und griff nach den leeren Tellern. Carol sprach sie an.
„No lo sé“, antwortete die Frau, ohne ihr obligatorisches Lächeln abzulegen. Keine Ahnung. Aber auf Carols Nachfrage folgten dann doch einige knappe spanische Sätze, die von der Kanadierin sofort übersetzt wurden.
„Ich habe ihr erzählt, dass wir heute Nacht das Feuer bemerkt und uns gefragt hätten, wie so etwas passieren könne.
Sie sagt, sie habe nichts gesehen und wisse auch nur, was sie von anderen aufgeschnappt habe. Das Schiff ist total ausgebrannt. Die Polizei hat es in den Hafen geschleppt.“
„Gehörte es Einheimischen oder Touristen?“, fragte Anne. Carol übersetzte. „Das weiß sie nicht. Wahrscheinlich gehört es jemandem in Puerto Ayora. Sie glaubt, dass es zu klein gewesen sei, um damit vom Festland hierherzufahren.“
Anne nickte. „Da hat sie wahrscheinlich recht. Aber wer kann sich hier schon eine solche Jacht leisten?“
Nun mischte sich auch einer der beiden Männer am Nachbartisch in das Gespräch ein. Er und die Wirtin wechselten rasch ein paar Worte.
„Was haben sie gesagt?“, fragte Anne.
„Es soll einem reichen Restaurantbesitzer gehört haben, der auf dem Festland in Guayaquil lebt und nur ab und zu hier ist“, übersetzte Carol. „Also war niemand an Bord?“„No“, antwortete die Frau. Sie lächelte noch immer, man merkte ihr aber an, dass es sie zurück in ihre Küche zog.
„Aber wer hat dann geschrien?“, fragte Salvatore.
Wieder ergriff der Mann am Nebentisch das Wort. Er und sein Begleiter machten ein ernstes Gesicht.
„Was?“entfuhr es Carol, während sie dem Mann zuhörte.
„Er sagt, vielleicht wisse die Wirtin nichts, vielleicht wolle sie aber auch nur nichts sagen. Auf dem Schiff war doch jemand, ein junges Pärchen. Der Sohn des Schiffseigners und eine Touristin.“
Salvatore riss die Augen auf. „Ach, du Scheiße. Also doch.“
„Ja.“Carol übersetzte weiter. Alle hörten jetzt gespannt zu.
„Weil eine Touristin betroffen sei, werde es nicht an die große Glocke gehängt, sagt er, aber er hat es von einem Freund, dessen Bruder bei der Polizei arbeitet. Die beiden wurden wohl aus dem Wasser gefischt und sofort ins Krankenhaus gebracht, angeblich mit schweren Verbrennungen. Aber das weiß er nur vom Hörensagen.“
„Boah“, machte Lieke. „Was wollten die denn auf dem Schiff?“
Der Mann grinste, als Carol die Frage übersetzte. „Er fragt, ob du dir das nicht denken kannst. Was treiben ein junger Mann und eine junge Frau wohl nachts auf einem Schiff?“
Lieke errötete.
„Wäre es möglich, dass jemand es auf die beiden abgesehen hatte?“, fragte Anne.
„Ein Anschlag?“, fragte der Mann zurück und wechselte rasch ein paar Worte mit seinem Begleiter. Dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, davon weiß er nichts. Er glaubt, es war ein Unfall.“Die Wirtin hatte begonnen, die leeren Teller aufeinanderzustapeln, und tat so, als würde sie nichts von dem Gespräch mitbekommen. Die Forscher zückten ihre Portemonnaies, um zu zahlen. Aber Anne ließ nicht locker. „Weiß man, wie das Feuer entstanden ist?“, fragte sie.
Die Antwort der Wirtin fiel kurz aus, und diesmal übersetzte Isabelle.
„Ein technischer Defekt, sagt sie. Was sonst? Wir sollen uns keine Sorgen machen.“
„Ich mache mir keine Sorgen. Aber wenn so selten jemand auf dem Schiff war, dann ist es umso seltsamer, dass da plötzlich Feuer ausbricht.“
„Worauf willst du hinaus?“Salvatore entnahm seiner Brieftasche einen Zehndollarschein und reichte ihn der Wirtin.
„Glaubst du, jemand könnte das Schiff angesteckt haben? Und das andere vor ein paar Tagen auch? Ein Versicherungsbetrug vielleicht?“
„Es hat schon mal gebrannt?“Lieke schaute überrascht von einem zum anderen. „Wusste ich gar nicht.“
Anne zuckte die Achseln. „Ich glaube gar nichts, Salvatore. Dazu wissen wir viel zu wenig. Es interessiert mich nur. Ist doch merkwürdig, wenn so was innerhalb von ein paar Tagen gleich zwei Mal passiert. Aber vielleicht ist es ja wirklich nur ein Zufall gewesen.“Die Wirtin hatte das Geschirr in die Küche ge- bracht und kehrte mit einem Zettel in der Hand zurück, um abzukassieren. Ihr Dauerlächeln war geschäftsmäßigem Ernst gewichen.
„Ich glaube, die Fragerei hat ihr nicht gefallen“, stellte Salvatore fest, nachdem alle ihre Rechnungen beglichen hatten und die Frau wieder in der Küche verschwunden war.
„Meinst du, sie hat etwas mit dem Feuer zu tun?“, fragte Lieke.
„Wie kommst du denn darauf?“Reinhardt schüttelte amüsiert den Kopf. „Ich werde dir sagen, was los ist. Warst du mal im Haus? Das sind arme Leute. Eine Segeljacht da draußen in der Bucht, das ist für die Frau ein Ding von einem anderen Stern, und Leute, die sich so etwas leisten können, sind Aliens. Wie wir im Übrigen auch. Sie will mit dem Scheiß nichts zu tun haben. Sie will keinen Ärger.“
„Was machst du eigentlich beruflich, Anne?“, fragte Isabelle, als sie aufgestanden waren, um den halbstündigen Rückweg in die Station anzutreten. „Bist du Journalistin oder so etwas?“
„Nein, ich bin Kriminalpolizistin.“„Im Ernst?“Anne lächelte, als sie die erstaunten Blicke der anderen auffing. Sie kannte diese Reaktion, eine Mischung aus Respekt und Erschrecken. Meistens ließ sie es, wenn man sie fragte, bei dieser Berufsbezeichnung bewenden, heute aber, nach dem Verlauf des Mittagessens, konnte sie nicht anders und fügte mit gleichgültig klingender Stimme hinzu. „Ja, natürlich. Ich leite die Kieler Mordkommission.“
Isabelle blieb wie angewurzelt stehen. „Oh“, entfuhr es ihr. (Fortsetzung folgt)