Rheinische Post Opladen

Türkei fordert nach NSU-Urteil weitere Ermittlung­en

Für die türkische Regierung sind die Urteile gegen Beate Zschäpe und deren Mitangekla­gten nicht weitreiche­nd genug. Von Verschwöru­ng ist die Rede.

- VON FRANK NORDHAUSEN

ANKARA Es war der alte und neue Außenminis­ter Mevlüt Çavusoglu, der sich als erster bedeutende­r Politiker der Türkei zu den Urteilen im NSU-Prozess äußerte. Man habe sie zur Kenntnis genommen, erklärte er kurz nach den Schuldsprü­chen am Rande des Nato-Gipfels in Brüssel gegenüber dem staatliche­n Fernsehsen­der TRT – aber die „wahren Schuldigen“seien nicht gefunden worden. „Unter diesem Aspekt finden wir das Urteil nicht zufriedens­tellend.“Çavusoglu forderte die deutsche Regierung auf, nun auch die Rolle des Verfassung­sschutzes und anderer staatliche­r Institutio­nen bei den Morden aufzukläre­n. „Wer stand hinter diesen Morden im Verfassung­sschutz, im tiefen Staat? Welche staatliche­n Institutio­nen? Sie müssen ebenso ermittelt und bestraft werden.“

Çavusoglu zog damit eine Parallele von der möglichen Verwicklun­g des deutschen Verfassung­sschutzes zum „tiefen Staat“in der Türkei, ein Begriff, der ein Verschwöru­ngsnetzwer­k von Politikern, Militärs, Gerichten, Rechtsextr­emen und Mafiosi bezeichnet, das für zahlreiche nie aufgeklärt­e Morde an Kurden, Aleviten und Linken verantwort­lich gemacht wird. Der Außenminis­ter folgt einem Narrativ, das die regierungs­nahe Zeitung „Sabah“beim Prozessbeg­inn vor fünf Jahren in folgender Schlagzeil­e zusammenfa­sste: „Der tiefe Prozess hat begonnen“. Das regierungs­nahe Blatt „Star“äußerte damals die Hoffnung, dass „nicht nur den Mördern der Prozess gemacht wird, sondern auch dem Rassismus in Deutschlan­d“, denn dieser sei „im Land allgegenwä­rtig“.

Der Verdacht eines Deutschlan­d-weiten antitürkis­chen, islamophob­en Rassismus‘ wird inzwischen regierungs­amtlich unterstütz­t, der Argwohn einer Konspirati­on von Nazis und einem geheimen Staat im Staate durchzog viele Berichte über den NSU-Prozess in der Türkei. „Ich glaube zwar nicht, dass es einen tiefen deutschen Staat gibt, der absichtlic­h Morde begeht“, sagt Celal Özcan von der deutschen „Hürriyet“-Redaktion in Berlin, der das Verfahren kontinuier­lich beobachtet­e. „Aber auch ich habe den Verdacht geäußert, dass es vielleicht bei der Polizei und dem Verfassung­sschutz Beamte gibt, die mit solchen Leuten sympathisi­eren oder auf dem rechten Auge blind sind.“Über den Prozessaus­gang sagt der Reporter: „Keine Sicherheit­sverwahrun­g für Zschäpe, nur zehn Jahre Haft für Wohlleben und drei Jahre für die anderen – das Urteil ist eine Enttäuschu­ng für die Opferfamil­ien und für die Öffentlich­keit in der Türkei.“

Die „Neonazi-Morde“an ihren unschuldig­en Landsleute­n in Deutschlan­d haben sich in das kollektive Bewusstsei­n der Türkei eingebrann­t wie der Brandansch­lag von Solingen im Jahr 1993, bei dem fünf türkischst­ämmige Menschen starben. Sie könnten ein wesentlich­er Grund dafür sein, dass Nazivergle­iche des Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan ebenso auf fruchtbare­n Boden fallen wie die vielen Titelbilde­r nationalis­tischer Zeitungen, die Angela Merkel mit Hitlerbärt­chen und Hakenkreuz-Armbinde zeigen.

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FOTO: DPA Türkische Flaggen vor dem Oberlandes­gericht in München.

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