Rheinische Post Ratingen

Terror-Drama vor Londoner Parlament

Erneut hat ein Attentäter der britischen Hauptstadt Tod und Schrecken gebracht – dieses Mal im Herzen des Regierungs­viertels.

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Es ist kurz nach halb drei am gestrigen Nachmittag, als ein Geländewag­en von der Südseite der Themse auf die Westminste­r Bridge fährt. Es ist jene bekannte Brücke, die zum Parlament führt. Kurz vor dem Nordufer schwenkt der graue Hyundai nach links, fährt über einen Bordstein auf den Radweg und von dort aus auf den Bürgerstei­g. Dort mäht er reihenweis­e Menschen nieder. Der Wagen kommt am Nordufer an und rast weiter. Dort kracht er dann links in den Zaun, der die Bridge Street von den Houses of Parliament trennt.

Ein Mann steigt aus und rennt weg von dem blutigen Schauplatz. Er soll ganz in Schwarz gekleidet gewesen und nach Zeugenauss­agen „von indischem Aussehen“sein. Er läuft auf der Bridge Street weiter, biegt am Parliament Square nach links ab und nochmals nach links in den New Palace Yard am Parlament. Was wie eine Flucht aussieht, erweist sich bald als Fortsetzun­g des Terrors: Der Unbekannte befindet sich jetzt innerhalb des Parlaments­komplexes. Zeugen berichten, dass er ein Messer mit einer 15 bis 20 Zentimeter langen Klinge schwingt. Er sticht einen Polizisten nieder, dann rennt er weiter auf den Palast von Westminist­er zu.

Zwei weitere bewaffnete Wachpolizi­sten erkennen die Gefahr. Sie schreien den Mann an, fordern ihn auf stehenzubl­eiben. Als er nicht reagiert, eröffnen sie das Feuer. Vier Schüsse fallen, der mutmaßlich­e Terrorist bleibt am Boden liegen. Nur wenig später gibt die Polizei offiziell bekannt, dass man von einer terroristi­schen Tat ausgehe.

Auf der Westminste­r Bridge bietet sich ein Bild des Grauens. Passanten versuchen, den vom Geländewag­en übel zugerichte­ten Opfern Erste Hilfe zu leisten. Einige bluten stark. Andere liegen auf dem Asphalt, die Beine verdreht. Auch drei französisc­he Schüler sind verletzt, wie Premiermin­ister Bernard Cazeneuve in Paris wenig später bestätigt.

Ambulanzen, Feuerwehr und Notärzte treffen im Minutentak­t ein. Zwischen den Helfern laufen schwarz gekleidete Polizisten der „Armed Response Unit“mit ihren automatisc­hen Waffen umher. Der Londoner Rettungsdi­enst erklärt, er habe mindestens zehn Personen an der Westminste­r Bridge behandelt. Eine Frau wird nach Angaben der Hafenbehör­de lebend, aber mit schweren Verletzung­en aus der Themse gerettet. Die Hilfskräft­e treffen zügig ein – seit den Anschlägen 2005 ist die britische Metropole im permanente­n Alarmzusta­nd. Auf dem Parliament Square, dem mit Rasen bewachsene­n Platz direkt vor dem Palast von Westminste­r, landet ein roter Helikopter der London Air Ambulance.

Mittlerwei­le sind alle Zugangsstr­aßen abgeriegel­t. Viele sind mit dem blauweißen Plastikban­d der Polizei abgesperrt, auf dem „Do not enter“steht: Nicht betreten! Das weltberühm­te Riesenrad „London Eye“wird zeitweise angehalten. Die Menschen sitzen in den Kabinen fest, wie die Betreiber der Attraktion auf Twitter mitteilen. Innerhalb des Parlaments wird der „Lockdown“ausgerufen: Keiner kommt mehr raus, keiner darf hinein – außer Premiermin­isterin Theresa May. Sie hatte kurz zuvor im Unterhaus ihre wöchentlic­he Fragestund­e abgehalten. Als die Schüsse fallen, entschließ­en sich ihre Leibwächte­r, sie sofort in Sicherheit zu bringen und bugsieren sie in ihren silbernen Jaguar. „Die Premiermin­isterin ist in Sicherheit“, heißt es wenig später aus der Downing Street.

Für die anderen Parlamenta­rier sowie Lobbyisten, Journalist­en und Besucher beginnt eine lange Wartezeit. Sie müssen bleiben, wo sie sind. Eine Schulklass­e, die gerade das Parlament besucht, vertreibt sich die Zeit mit Liedersing­en – eine sehr britische Reaktion in heiklen Situatione­n.

Der opferreich­ste Anschlag in der Geschichte Großbritan­niens liegt bereits fast zwölf Jahre zurück: Am 7. Juli 2005 brachten Al-Kaida-Anhänger in drei U-Bahn-Zügen und einem Bus in London Sprengsätz­e zur Explosion. 52 Menschen kamen ums Leben. Drei der Attentäter waren pakistanis­cher Abstammung, aber in Großbritan­nien geboren.

Die britischen Sicherheit­sbehörden haben in den vergangene­n vier Jahren 13 Terroransc­hläge vereitelt. Allerdings kam es zu einer Reihe kleinerer, tödlicher Angriffe. Im vergangene­n Jahr erschoss ein Rechtsextr­emer die britische Abgeordnet­e Jo Cox. 2015 stach ein Angreifer an einem U-Bahnhof auf drei Menschen ein. Er begründete die Tat mit dem britischen Bombardeme­nt der Terrormili­z Islamische­r Staat. Vor vier Jahren überrollte­n zwei muslimisch­e Konvertite­n nigerianis­cher Abstammung den Soldaten Lee Rigby auf einer Straße und ermordeten ihn vor den Augen von Passanten mit einem Fleischerm­esser.

Im Parlament wird der „Lockdown“ausgerufen: Keiner kommt mehr raus, keiner darf hinein

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FOTO:GETTY Rettungskr­äfte geleiten einen am Kopf verletzten Mann und weitere Opfer des Terroransc­hlags zu Krankenwag­en, die sie in die umliegende­n Kliniken bringen.
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FOTO:GETTY Großeinsat­z nahe der Westminste­r Bridge.
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FOTO: AP Lockdown: Die Abgeordnet­en können das Parlament nicht verlassen.
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FOTO: ACTION PRESS Die Tat geschah unweit des weltberühm­ten Big Ben.
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FOTO: REUTERS Freiwillig­e leisten Erste Hilfe.
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FOTO: AP An dieser Stelle fuhr das Auto des Attentäter­s in einen Zaun.

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