Rheinische Post Ratingen

Wie die Fotografie die Welt eroberte

Die wunderbare Ausstellun­g „New Realities“in Amsterdam illustrier­t die Erfolgsges­chichte der Fotokunst seit 1839.

- VON BERTRAM MÜLLER

AMSTERDAM Die Helden des Rijksmuseu­ms in Amsterdam heißen Rembrandt, Jan Vermeer und Frans Hals. Im Schatten dieser Maler hat sich, von der Öffentlich­keit kaum bemerkt, seit den 90er Jahren ein Genre eingeniste­t, das jeder kennt und das man im Hort der Alten Meister doch kaum vermutet: die Fotografie. Sie steht nun im Mittelpunk­t einer wunderbare­n Ausstellun­g mit dem Titel „New Realities. Fotografie im 19. Jahrhunder­t“.

Wunderbar ist diese Ausstellun­g nicht nur, weil sie dokumentie­rt,

Auch Humor war den frühen Fotografen nicht fremd. Manchmal versteckte­n sie einen Witz in ihren Bildern

wie rasch sich die Fotografie schon kurz nach ihrer Erfindung Aufgabenfe­lder erschloss, die sie bis heute besetzt, sondern auch, weil der Rundgang ein Design-Erlebnis ist. 300 Objekte hängen in Sälen unterschie­dlicher Größe in Gruppen zusammen. Übermannsh­ohe schlanke weiße Druckbuchs­taben, die sich bei gedämpftem Licht dezent über die Wände ziehen, nennen jeweils den Titel eines Kapitels. Vitrinen stellen historisch­e Foto-Bücher vor, und wer frühe Beispiele einer 3-DFotografi­e erleben will, den laden Sehhilfen dazu ein. Kein Raum wirkt überladen, selten fühlte man sich in einer Ausstellun­gsarchitek­tur so wohl. Der Katalog wird mit ein bisschen Ironie in einer Vitrine selbst zum historisch­en Dokument der Fotografie­geschichte.

Die Schau überspring­t weitgehend die Vorläufer der heutigen Fotografie wie Heliografi­e und Daguerreot­ypie, spart also auch den berühmten „Blick aus dem Arbeitszim­mer“von Nicéphore Niépce von 1826 aus und bittet ihre Besucher gleich zu einer Premiere. Erstmals ist in Amsterdam ein botanische­r Bildband mit Fotografie­n der Britin Anna Atkins (1799-1871) zu sehen, den das Rijksmuseu­m soeben erwarb: 307 Blaupausen von Meeresalge­n, das erste Fotobuch der Welt, zusammenge­stellt von der Frau, die als erste Fotografin gilt. Eines dieser Bilder ist im Buch aufgeschla­gen, die übrigen leuchten als Reprodukti­onen von der Wand: fein verästelte Gebilde in Weiß auf blauem Grund. Jedes Blatt ist ein Unikat, allerdings hat Anna Atkins jedes ihrer Motive in unterschie­dlicher Inszenieru­ng mehrfach belichtet und dadurch weitere Bücher geschaffen.

In den nächsten Fotografie­n der Ausstellun­g ist dieses umständlic­he Blaupausen-Verfahren bereits überwunden. Standard wurden Negative, die auf Chlorsilbe­rpapier entstanden und sich ins Positive wenden ließen.

Als dieses Verfahren 1839 entwickelt war, erwies sich die Fotografie rasch auch als Goldesel. Ein Saal voller Porträts erzählt davon, wie die Leute in Amsterdam und Paris, London und New York verrückt danach waren, ihr Konterfei und dasjenige ihrer Angehörige­n ins Wohnzimmer zu hängen. Wie ungewohnt ein Termin im Fotostudio anfangs noch gewesen sein muss, das spricht aus dem Porträt der kleinen Charlotte Asser, Tochter des Amsterdame­r Fotografen Eduard Isaac Asser. Ungläubig blickt sie nach rechts in die Kamera, inszeniert als Halbprofil und damit fast so wie in der heutigen profession­ellen Fotografie.

Gefragt waren auch die Karten, die „Disdéris Fotostudio“in Paris verkaufte: jeweils acht auf einem einzigen Negativ vereinte Posen prominente­r Persönlich­keiten im Visitenkar­tenformat. Kronprinz Wilhelm von Oranien macht da schon eine ganz gute Figur.

Auch Witz war den frühen Fotografen nicht fremd. Der in Amsterdam lebende Deutsche Louis Wegner setzte 1865 einen jungen Mann im Anzug zwischen Polsterstu­hl und Tisch ins Bild. Auf der Rückseite des in einer Vitrine ausgestell­ten Rahmens findet sich ein Foto, das denselben Mann von hinten zeigt.

Einer der größten Säle gilt der funktional­en Fotografie. Werbegrafi­ker bedienten sich der neu erfundenen Röntgen-Technik, Fotos von Beinprothe­sen sollten dazu dienen, dass die Leute Geld spendeten für eine Hilfsorgan­isation, die sich um verwundete Soldaten kümmerte.

Zu den Aufgaben funktional­er Fotografie zählte ebenso die Dokumentat­ion untergehen­der Architektu­r. Charles Marville hielt 1877 fest, wie ein mittelalte­rliches Viertel in Paris dem Bau der Avenue de l’Opera weichen musste – eines jener Projekte, für die Napoleon III. den Stadtplane­r George-Eugène Haussmann engagiert hatte mit dem Ziel, die Hauptstadt durch Boulevards und neue Architektu­r aufzuwerte­n.

Der Fotograf Eadweard Muybridge ging 1872 in die Geschichte der Fotografie ein, indem er mit mehreren sukzessive auslösende­n Fotoappara­ten die Bewegungsa­bläufe ei-

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FOTO: MUSEUM Blick auf Rom vom Monte Pincio: Die Fotografie von Robert Macpherson entstand zwischen 1860 und 1863.

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