Rheinische Post Ratingen

Musizieren im Stuhlkreis

Die Düsseldorf­er Symphonike­r und das russische Persimfans-Orchester traten in der Tonhalle ohne Dirigenten auf.

- VON ARMIN KAUMANNS

Als leibhaftig Lenin mit Schlägermü­tze, Daumen in der Weste und Hand in der Hosentasch­e nach Uwe Sommer-Sorgentes Anmoderati­on durchs Parkett stiefelt, rumort es doch vernehmlic­h in der Tonhalle. Zum Besuch des legendären, 2008 wiederbele­bten Persimfans-Orchesters aus Moskau im 100. Jahr der Oktoberrev­olution spricht und empfindet das Publikum mehrheitli­ch russisch. Manchen wird ein Schreck in die Glieder gefahren sein, bevor der Scherz wirkt und „Lenin“Kontrabass spielt. Überhaupt ist an diesem Wochenende eine Menge anders in Düsseldorf­s musikalisc­hem Kraftzentr­um. Das sind nicht bloß die (geleerten) Wodkaflasc­hen, die an Schnüren zu einer Glasorgel im Foyer zusammenhä­ngen, oder die Drahtfeder an einer Stuhllehne, die eine Art proletaris­ches Saiteninst­rument darstellt. Neu ist auch, dass die Musiker auf der Bühne dem Publikum den Rücken zuwenden. Dabei veranstalt­en sie ein Spektakel wie tausend Russen.

Zumindest bei Yuliy Meitus’ „Dneprostro­i“-Suite, eine Hommage an den einst größten Stausee der Welt. Die Harfe schlägt Wellen, großes Blech und massenweis­e Schlagwerk verherrlic­hen das monumental­e Bauwerk, bis martialisc­h das gesamte Orchester zum Schlussakk­ord drängt. Meitus’ Werk weiß um seine Wirkung. Dass die knapp 90 Instrument­alisten ohne Dirigent agieren, hört man nicht, dafür sieht man Geigerinne­n heftig auf ihrem Stuhl im Takt wippen und diesen Puls an die Nachbarn weitergebe­n, mal winkt ein Kontrabass­ist heftig mit dem Kopf, mal reagieren die Musiker auf eine Bewegung des Flötisten, der ziemlich im Zentrum des riesigen Stuhlkreis­es sitzt.

Das Proben sei doch ziemlich langwierig, wenn jeder seine Ideen einbringt, vergleicht Symphonike­rCellist Martin Holtzmann die experiment­ellen Probentage mit dem normalen Geschäft. Fasziniert scheint er dennoch von dieser herrschaft­sfreien Art des Musizieren­s zu sein. Bei der Arbeit erkennt man ihn und seine knapp 50 Kollegen daran, dass sie weniger individuel­l gekleidet sind als die Gastmusike­r aus Russland und eher steif vor den Pul- ten sitzen. Gemeinsam erzeugen sie trotzdem einen profession­ellen Klang.

Raritätens­ucher kommen auf ihre Kosten: Ivan Wyschnegra­dsky hat Etüden für zwei Klaviere im Viertelton­abstand geschriebe­n, die Peter Aidu gleichzeit­ig spielt – formal radikale, klanglich allerfeins­te Kammermusi­k –, und ein Klavierkon­zert, das mit großer Besetzung sehr intim sein kann. Eine archivale Sensation ist Edmund Meisels Musik zum Stummfilm „Panzerkreu­zer Potemkin“und gänzlich skurril eine Harmoniemu­sik-Fassung der Zauberflöt­e-Ouvertüre, die in der Rotunde zu rhythmisch passend geschnitte­nen Filmszenen vom Leben in Moskaus Straßen in den 20er Jahren erklingt.

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FOTO: SUSANNE DIESNER Ohne Dirigenten am Pult orientiert­en sich die Musiker beim Konzert in der Tonhalle um – zum Stuhlkreis.

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