„Meine Sams-Ideen kommen hauptsächlich nachts zwischen 3 Uhr und 3.40 Uhr“
Paul Maar ten. Und dieses Büro war bei uns im Elternhaus. Diesen Angestellten habe ich immer Herrn Taschenbier genannt, und er war genauso, wie ich ihn als Herrn Taschenbier in den Sams-Büchern beschrieben habe: Er war schüchtern, er war angepasst und auch ein bisschen ängstlich. Zu Erwachsenen war er in gewisser Weise kontaktgestört; aber zu Kindern hatte er einen Draht und konnte sich auch öffnen. Schon als Kind habe ich mir gesagt: Wenn ich ihm doch nur ein wenig mehr Lebensfreude verschaffen könnte! Aber dazu hat man natürlich nicht die Macht.
Und diese kleine Rettung des armen Herrn Taschenbier gelang dann erst mit der Literatur?
MAAR Erst als erwachsener Autor konnte ich ihn zum Leben erwecken: Ich gab ihm also den Namen Taschenbier und stellte ihm eine Figur zur Seite, die all das verkörpert, was er in sich hätte, was er aber nicht auslebt: Er ist schüchtern, das Sams ist frech. Er ist ängstlich, das Sams ist mutig. Er ist kontaktgestört, das Sams quatscht jeden an. So kam ich dann auf die Gegenfigur. Meine Idee zum ersten Sams-Buch war also, Herrn Taschenbier etwas mehr Lebensfreude zu schenken.
In Ihrem Weihnachtsbuch des Sams gibt es als Geschenk auch einen Karton, in dem wir alle unsere Hemmungen reintun und verpacken können. Aber sind gewisse Schüchternheiten nicht auch Teil unseres Charakters?
MAAR Das stimmt. Aber es gibt ja auch einen guten Mittelweg; man muss ja nicht gleich nassforsch sein aufgrund einer Sams-Begegnung. Aber es könnte ja auch sein, dass man etwas mehr wagt. Dass man sein Leben etwas mehr in die Hand nimmt und sich weniger leben lässt – wie das eben Herr Taschenbier macht.
Wenn es für Herrn Taschenbier eine Vorlage aus ihrem Leben gab, existierte dann auch eine Vorlage für das Sams – nicht optisch, aber wesenhaft?
MAAR Für das Sams gab es eigentlich kein Vorbild. Es ist als Gegenwesen zu Herrn Taschenbier entstanden. Und auch das Äußere musste ich mir erst mühsam erarbeiten. Ich mache die Illustrationen zu meinen Büchern selbst und habe mindestens zehn Entwürfe gebraucht. Meine Kinder haben mir dabei über die Schulter geschaut und immer wieder Einwände gehabt.
Hatten Sie eigentlich ein wenig Angst, das Sams jetzt auf seine Art auch Weihnachten feiern zu lassen – immerhin ist es ein Fest, das für viele Menschen auch in einer Stille und Andacht wichtig ist.
MAAR Da sprechen Sie mir wirklich aus der Seele. Denn das Buch war zunächst keineswegs mein Wunschtraum. Dann hat mich der Verlag ge- lockt und gesagt: Herr Maar, alle deutschen und auch europäischen Kinderbuchautoren haben schon einmal eine Weihnachtsgeschichte geschrieben; Astrid Lindgren sogar zwei. Und dann kam die Frage: Herr Maar, haben Sie Angst, sentimental zu werden, weil Weihnachten ja auch wehmütig ist? Und dann sagte ich: Also gut, ich schreib mal eine Weihnachtsgeschichte, aber die wird bestimmt nicht tränenselig, sondern eher bizarr und lustig, weil diesmal nämlich das Sams Weihnachten feiern wird. Im Lied heißt es ja nicht nur „Oh, du selige“, sondern auch „Oh, Du fröhliche Weihnachtszeit.“
Und dieses Sams ist dann in Ihrer Geschichte wie gewohnt schonungslos und entlarvt unter anderem im Kostüm des Weihnachtsmannes den Schein des Festes.
MAAR Er ist praktisch wie ein afghanisches Kind, das nach Deutschland kommt und natürlich weiß, wie Ramadan gefeiert wird, aber noch nie etwas vom Weihnachtsfest gehört hat. So naive Fragen stellt auch das Sams – was, die haben das Jesuskind einfach in einen Futtertrog gelegt? Was sagt denn das Gesundheitsamt dazu?
Teilen Sie mit dem Sams die Kritik an der Kommerzialisierung des Festes?
MAAR Ich glaube, das merkt man mit dem Buch ganz deutlich. Herr Taschenbier meckert über den Weihnachtsrummel in den Kaufhäusern schon ab November. Und das Sams parodiert diesen Kaufzwang, indem es ein Lied dagegen anstimmt und prompt aus dem Kaufhaus geschmissen wird.
Wie kamen Sie auf die tolle Zeile des Weihnachtslieds „Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, ein Sams wacht“?
MAAR Ich habe einfach das Sams in dem Wort einsam entdeckt. Das sind so blitzartige Einfälle, die einem in den Sinn kommen und die man sofort notieren muss. Bei solchen Einfällen ist dann ein halber Tag aber schon gerettet.
Das Sams hatte lange Zeit einen Alleinstellungsanspruch, jetzt kommen andere Sams hinzu …
MAAR Na ja, ich konnte ja nicht immer mit dem gleichen Personal weiterschreiben. Außerdem haben mich Kinder in Hunderten von Briefen gefragt, wo eigentlich das Sams herkommt. Und da habe ich das Geheimnis gelüftet: Es existiert also eine eigene Sams-Welt mitten in unserer Welt.
Wird auch Herr Taschenbier einmal die Chance bekommen, mit einem Zauberwort die Sams-Welt zu betreten?
MAAR Daran habe ich am Rande auch schon mal gedacht. Aber andererseits habe ich gerade meinem Verlag mitgeteilt, dass ich kein weiteres Sams-Buch mehr schreiben möchte. Vielleicht mache ich jetzt wirklich Schluss damit.
Das haben Sie allerdings schon öfters gesagt.
MAAR Das stimmt. Ich habe schon oft an ein Ende geglaubt, in der Tat. Aber dann hat mich immer wieder eine zündende Idee überrascht – so nachts gegen drei Uhr. Das ist übrigens meine beste Zeit für Ideen. Im Ernst: Würde ich Schlaftabletten einnehmen, wären wahrscheinlich nie Sams-Bücher erschienen. Meine Ideen kommen also hauptsächlich zwischen 3 Uhr und 3.40 Uhr. Darum habe ich neben meinem Bett einen Leuchtkugelschreiber liegen, damit meine Frau nicht aufwacht, wenn ich mitten in der Nacht meine Ideen aufschreibe.
So viele Jahre begleitet Sie das Sams schon. Was bedeutet es Ihnen? Ist es mehr als nur eine literarische Figur? Sitzt es Ihnen gelegentlich auf der Schulter?
MAAR Da übersteigern Sie das Wesen des Sams und seinen Einfluss auf mich ein wenig. Wenn ich ein neues Sams-Buch schreibe, beschäftige ich mich vier, fünf Monate intensiv mit ihm. Dann schicke ich das Manuskript weg und habe das Sams erst einmal vergessen.
Was hängt bei Ihnen am Weihnachtsbaum? Sind es wie beim Sams Würste?
MAAR Ganz traditionelle Kugeln, die schon von meinen Großeltern zu uns gekommen sind.
Und was bedeutet Ihnen Weihnachten?
MAAR Es ist eine Chance, die Großfamilie wieder zu versammeln. Mein Sohn lebt in Berlin, meine Tochter leitet ein Theater in Schloss Marsbach; nur die mittlere Tochter lebt erfreulicherweise hier in Bamberg. Ich freue mich schon den ganzen Dezember darauf, dass Weihnachten dann alle zusammen sind. LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.