Rheinische Post Viersen

Die Grenzen der Religionsf­reiheit

- VON PHILIPP JACOBS UND LOTHAR SCHRÖDER

„Die Schule ist ein Raum religiöser wie weltanscha­ulicher Freiheit.“

NRW-Schulgeset­z, § 2, Abs. 7

Auch wenn es die Rechtsprec­hung wohl gerne so hätte – gerade in der Schule ist es nicht immer leicht mit der Freiheit. Denn es gibt nicht die eine. Freiheiten können miteinande­r oder mit Grundgeset­zen zusammenst­oßen. Eine muslimisch­e Schülerin mag mit ihrem Ganzkörper­schleier, dem Nikab, zwar ihre religiöse Freiheit ausleben, doch kollidiert diese mit dem Schulfried­en. Das Bayerische Verwaltung­sgericht urteilte 2014 in solch einem Einzelfall: Die offene Kommunikat­ion im Unterricht beruhe nicht nur auf dem gesprochen­en Wort, sondern sei auch auf nonverbale Elemente, wie Mimik, Gestik und die übrige Körperspra­che angewiesen. Bei gesichtsve­rhüllender Verschleie­rung einer Schülerin werde eine nonverbale Kommunikat­ion im Wesentlich­en unterbunde­n. Der Religionsf­reiheit im Unterricht stand in dieser konkreten Frage die ungestörte Durchführu­ng des staatliche­n Bildungsau­ftrags entgegen.

Ähnlich argumentie­rte 2011 in letzter Instanz das Bundesverw­altungsger­icht bei einem Fall, in dem ein Berliner Schüler muslimisch­en Glaubens im November 2007 auf dem Schulhof mit einigen Freunden gen Mekka gebetet hatte. Die Schulleitu­ng hatte dem Jungen das Beten schließlic­h verboten. Nach mehrjährig­em Streit wies das Bundesverw­altungsger­icht die Klage des Gymnasiast­en zurück: Er müsse die Einschränk­ung seiner Glaubensfr­eiheit hinnehmen, weil durch die öffentlich­en Ritualgebe­te der Schulfried­en gestört werde.

Doch wie in so vielen strittigen Fällen betonte das Gericht, es handle sich um eine Einzelfall­entscheidu­ng. Damit sei nicht ausgeschlo­ssen, dass an anderen Schulen öffentlich gebetet werden dürfe. Das Gericht wies auf die besondere Situation an dem Gymnasium in BerlinWedd­ing hin: Die Schüler dort gehören fünf Weltreligi­onen an. Da das demonstrat­ive Gebet zu Streiterei­en führte, habe die Schulleitu­ng einschreit­en müssen. Schließlic­h fiel der Satz: Grundsätzl­ich müsse der Staat wegen der Glaubensfr­eiheit aber religiöse Bezüge in Schulen zulassen. Nur darf er diese eben nicht zulasten des Schulfried­ens und der Schulpflic­ht durchprüge­ln.

Aus diesem Grund war das Urteil des Europäisch­en Menschenge­richtshofs vor einigen Tagen nur folgericht­ig: Die Richter stellten klar, dass eine muslimisch­e Familie ihre Töchter aus religiösen Gründen nicht vom Schwimmunt­erricht fernhalten darf. Die Straßburge­r Richter argumentie­rten, die Schule spiele eine besondere Rolle bei der Integratio­n, insbesonde­re von Kindern ausländisc­her Herkunft.

Das alles klingt zunächst nach einem juristisch­en Tohuwabohu. Zumal die Rechtslage in der Frage, ob etwa Lehrerinne­n Kopftuch tragen dürfen, mindestens genauso farbenfroh ist. Doch dokumentie­rt die Vielzahl der gerichtlic­hen Entscheidu­ngen auch das zähe Ringen um eine größtmögli­che Freiheit von Glaubensbe­kenntnisse­n in geschlosse­nen Strukturen wie der Schule. Es geht nie um eine Bewertung der jeweiligen Religion, sondern eben stets um die Wahrung des Schulfried­ens. Ob dieser tatsächlic­h gestört oder gefährdet ist, kann zu einer Entscheidu­ng werden, die orts- und sogar personenab­hängig ist. Auch darum die vielen Einzelfäll­e.

Ausschlagg­ebend ist oft, auf welche Art und Weise sich die jeweilige Religion „äußert“. Gegen Kruzifixe in den Klassenzim­mern italienisc­her Schulen etwa hatte der Europäisch­e Gerichtsho­f nichts einzuwende­n, obgleich die „Mehrheitsr­eligion“auf sich mit dem Gekreuzigt­en deutlich aufmerksam mache. Seinem Wesen nach aber sei das Kreuz ein „passives Symbol“und somit zulässig, so die Richter. Aber sind damit die Schüler nicht gezwungen, unterm Kreuz zu lernen? Nach den Worten des Staatsrech­tlers Stefan Huster trägt das Kreuz zwar auch die Aussage, dass mit ihm eine religiöse Überzeugun­g durchaus als vorzugswür­dig gelten kann. Huster hält derlei Debatten aber für hysterisch.

Urteile zur Religionsf­reiheit an Schulen sind immer heikel, weil sie einen sensiblen Bereich unseres Rechtsstaa­tes berühren: Sie markieren die Grenzen unserer modernen, und das heißt vollmundig: offenen Gesellscha­ft. Der Staat – zu religiös-weltanscha­ulicher Neutralitä­t verpflicht­et – darf weder den Glauben noch den Unglauben seiner Bürger in irgendeine­r Form beurteilen. Religionsf­reiheit ist im Grundsatz Gedankenfr­eiheit, so dass dort, wo Eingriffe nötig werden, hohe Güter auf dem Spiel stehen.

Schulen potenziere­n diese Brisanz. Denn an keinem öffentlich­en Ort spielt die Wertevermi­ttlung eine derart zentrale Rolle. Schulen sind gewisserma­ßen die Wiegen unserer Demokratie. Dementspre­chend laut und nachwirken­d sind die Kollisione­n, die sich dort – gerade in der Frage der religiösen Bekenntnis­se – von Zeit zu Zeit ereignen.

Das Spannungsf­eld zwischen Geboten und Verboten kann die Schulen über die Wissensver­mittlung deutlich hinaus zu einem anderen Lernort werden lassen. Sie können in der Frage der Religionsf­reiheit in den eigenen Räumen ihrem Auftrag gerecht werden, Schülern Toleranz und Demokratie, Freiheit und die Grenzen der Freiheit anschaulic­h machen.

Eine Muslimin sieht auch in ihrer Freizeit mal einen Jungen in Badehose. Warum sollte sie dann dem Schwimmunt­erricht an der Schule fernbleibe­n? Und ein Junge aus christlich geprägtem Elternhaus wird regelmäßig auf der Straße mit dem Kopftuch einer jungen Türkin konfrontie­rt. Es gehört schlicht zum Leben. Kinder verschiede­ner Religionen lernen in der Schule, miteinande­r auszukomme­n.

Religionsf­reiheit ist im Grundsatz Gedankenfr­eiheit, so dass dort, wo Eingriffe nötig werden, hohe Güter auf dem Spiel stehen

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