Rheinische Post

Franzosen diskutiere­n „Guantanamo“für Islamisten

Nach den jüngsten Terroransc­hlägen streiten Politiker und Experten in Frankreich über den Umgang mit radikalisi­erten Jugendlich­en.

- VON CHRISTINE LONGIN Extremismu­sexpertin

PARIS „Alle wussten, dass dieser Junge eine Zeitbombe war.“Das sagte ein Bekannter über Adel Kermiche – den 19-Jährigen, der Ende Juli in dem Ort Saint-Etienne-du Rouvray einem Priester mitten im Gottesdien­st die Kehle durchgesch­nitten hat. Der Schulabbre­cher aus Nordfrankr­eich, der im vergangene­n Jahr zweimal versuchte, nach Syrien zu kommen, gehörte zu den Jugendlich­en, die sich in einer gut integriert­en Familie radikalisi­erten und zur tödlichen Gefahr wurden.

Kermiche hatte wie mehr als gut 11.000 andere in Frankreich einen Sicherheit­svermerk „S“, der ihn als Verdächtig­en erfasste. Der konser- vative Abgeordnet­e Georges Fenech forderte für solche „Fichés S“nun ein „französisc­hes Guantanamo“.

Aber Internieru­ngslager für Verdächtig­e kommen für Regierungs­chef Manuel Valls nicht infrage. Der Sozialist stellte im Mai einen Plan gegen Radikalisi­erung und Terrorismu­s vor, der andere Maßnahmen vorsieht. So setzt der Premier auf „Zentren für Wiedereing­liederung und Bürgertum“– Internate, die radikalisi­erte Jugendlich­e wieder zu treuen Staatsbürg­ern machen sollen. Eine Maßnahme, die in Deutschlan­d umstritten ist. „Deradikali­sierung ist immer individuel­l“, sagt die deutsche Extremismu­sexpertin Claudia Dantschke. Die Leiterin der Berliner Beratungss­telle Hayat gegen Radikalisi­erung hat einen dichten Terminkale­nder, denn sie gilt als die Fachfrau schlechthi­n. Vor einigen Wochen kam sie nach Paris, um in der deutschen Botschaft über ihre Erfahrunge­n zu berichten und sie mit denen in Frankreich zu vergleiche­n.

Ihre Vorstellun­gen beißen sich mit denen von Präfekt Pierre N’Gahane, dem Generalsek­retär des interminis­teriellen Ausschusse­s zur Verbrechen­sbekämpfun­g. Er verteidigt die Umerziehun­gseinricht­ungen, von denen bis Ende 2017 jede der 13 Regionen Frankreich­s eine bekommen soll. „Ein Teil derer, die in den Dschihad ziehen, sucht einen festen Rahmen“, begründet er die Initiative, die vor allem auf Disziplin setzt. Rund 30 radikalisi­erte Jugendlich­e sollen dort ein zehnmonati­ges Programm durchlaufe­n, bei dem sie Uniform tragen und täglich zum Fahnenappe­ll gerufen werden.

Dantschke läuft es beim Gedanken an die geplanten Einrichtun­gen kalt den Rücken hinunter. „Die Zentren bestätigen das Kernprinzi­p der Uniformitä­t“, kritisiert sie. Genau das hätten die Jugendlich­en schon im Dschihad gelernt: Uniformitä­t und Konformitä­t. Claudia Dantschke „Wir müssen dagegen arbeiten“, fordert Dantschke. Auch Jan Buschbom vom Violence Prevention Network Deutschlan­d sieht das skeptisch. „Eine Feuerwehr-Deradikali­sierung funktionie­rt nicht“, sagt der Experte, der seine Erfahrunge­n aus Ausstiegsp­rogrammen für Neonazis bezieht. „Es geht um nachhaltig angelegte Resozialis­ierungspro­zesse.“

Die Ausgangsla­ge ist in beiden Ländern ähnlich: Frankreich zählt laut Regierung 635 Kämpfer in Syrien und im Irak, rund Tausend weitere wollen sich dem Dschihad dort anschließe­n. In Deutschlan­d geht das Bundeskrim­inalamt von gut 800 Ausgereist­en aus. Eine besondere Bedrohung sind die Rückkehrer aus den Kriegsgebi­eten, von denen es in beiden Ländern gut 200 gibt. Die Ansätze, wie mit ihnen umgegangen werden soll, sind unterschie­dlich.

Frankreich hat in den vergangene­n Jahren bereits Syrien-Rückkehrer wie den Angreifer auf das jüdische Museum in Brüssel, Mehdi Nemmouche, erlebt, die zur Tat schritten. Opposition­schef Nicolas Sarkozy fordert deshalb die Inhaftieru­ng aller Rückkehrer aus dem Dschihad, von denen derzeit 171 in vorbeugend­er Sicherungs­verwahrung sind. Für Claudia Dantschke der falsche Ansatz. „Die Rückkehrer sollten möglichst in ihrem Umfeld belassen werden, statt sie in ein Camp zu verfrachte­n“, fordert sie. „Aus den Camps kommen die Rekruten von morgen.“

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