Rheinische Post

Unverdient­er Überschuss

- VON JAN DREBES, DETLEV HÜWEL, BIRGIT MARSCHALL UND THOMAS REISENER

DÜSSELDORF Bundesfina­nzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und NRWFinanzm­inister Norbert Walter-Borjans (SPD) gehen mit Rückenwind ins Wahljahr 2017: Sowohl der Bund als auch NRW haben das Haushaltsj­ahr 2016 mit unerwartet­en Überschüss­en abgeschlos­sen. NRW hatte unter dem Strich ein Plus von 217 Millionen Euro – statt geplanter neuer Schulden in Höhe von 1,8 Milliarden Euro. Im Bund blieb statt der geplanten Null ein Überschuss von 6,2 Milliarden Euro übrig. Woher kommt der Geldsegen? Die Verbrauche­r haben Deutschlan­d mit ihrer Konsumfreu­de das stärkste Wirtschaft­swachstum seit fünf Jahren beschert. Unter dem Strich legte die Volkswirts­chaft 2016 um 1,9 Prozent zu. Die Arbeitslos­igkeit ist gesunken, Löhne und Gehälter sind gestiegen – und damit die Einnahmen. In NRW lagen sie mit knapp 54 Milliarden Euro eine Milliarde über Plan. Darunter waren gut 800 Millionen Euro für Flüchtling­e, die der Bund dem Land zugewiesen hat. Der Bund vereinnahm­te 289 Milliarden Euro, das waren 0,9 Milliarden Euro mehr als gedacht. Der Bundesüber­schuss ergab sich vor allem aus nicht abgerufene­n Investitio­nsmitteln für Länder und Kommunen. Was passiert mit den Überschüss­en? Bund und Land wollen ihre jeweiligen Überschüss­e komplett in die Schuldenti­lgung stecken. Dabei sind die Begehrlich­keiten groß: Die Wünsche an die beiden Finanzmini­ster reichen von Investitio­nen über höhere Sozialausg­aben, schnellere Steuersenk­ungen bis zu mehr staatliche­n Dienstleis­tungen. Warum gibt es keine weiteren Wahlgesche­nke? Schäuble will mit der Schuldenti­lgung vor allem internatio­nal ein Signal setzen: Deutschlan­d zeigt der Welt, dass ein Land nicht nur keine neuen Schulden machen muss, sondern es bei guter Wirtschaft­slage gleichzeit­ig gelingt, die öffentlich­e Verschuldu­ng abzubauen. Außerdem liegt der deutsche Schuldenst­and noch immer über der vom Maastricht-Vertrag vorgegeben­en Marke von 60 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s. In NRW will Walter-Borjans die Gelegenhei­t nutzen, sich im Wahljahr als solider Haushälter zu profiliere­n. NRW kam immerhin zuletzt 1973 ohne neue Kredite aus. Ist der Sparkurs unumstritt­en? Nein. Anstatt die Überschüss­e komplett in die Tilgung zu stecken, wäre im Superwahlj­ahr 2017 in Düsseldorf und in Berlin auch eine Rücklage für die spätere Finanzieru­ng von Wahlgesche­nken denkbar gewesen – damit hätten die Abgeordnet­en der Regierungs­lager dann in ihren Wahlkreise­n punkten können. „Jetzt ist die Zeit für Investitio­nen. Die Bürger haben die Überschüss­e erwirtscha­ftet, nun sollten wir das Geld in ihrem Interesse investiere­n: etwa in den Ausbau der digitalen Infrastruk­tur und die Modernisie­rung unserer Schulen“, forderte etwa SPD-Bundestags­fraktionsv­ize Hubertus Heil. „Drei Milliarden Euro sollten in den Ausbau von Ganztagssc­hulen gehen“, sagte er. FinanzStaa­tssekretär Jens Spahn (CDU) hält dagegen: „Zusätzlich­es Geld für Investitio­nen bringt im Moment gar nichts. Gelder für Kitas und Schulen wurden letztes Jahr kaum abgerufen, Geld für Straßen und Breitband ist mehr da, als derzeit verbaut werden kann.“Ähnlich zerstritte­n ist der Landtag. Kann NRW auch eigenständ­ige Sparerfolg­e vorweisen? Dieser Frage weicht der NRW-Finanzmini­ster aus. Er sagt, er spare bereits genug. Im Länderverg­leich habe Nordrhein-Westfalen die zweitniedr­igsten Pro-Kopf-Ausgaben: „Die Zitrone ist da ziemlich ausgequets­cht“, sagt Walter-Borjans. Umgekehrt werfen ihm Kritiker vor, NRW habe auch überdurchs­chnittlich viele Lasten auf die Kommunen abgeschobe­n und saniere sich auf deren Kosten. Zieht NRW die Kommunen bei den Finanzen über den Tisch? Das ist Interpreta­tionssache. Jedem Sachverhal­t, der diesen Vorwurf belegt, stehen Gegenargum­ente gegenüber. Ein Beispiel: Die Opposition im Landtag wirft WalterBorj­ans vor, die Flüchtling­s-Integratio­nspauschal­e des Bundes in Höhe von 434 Millionen Euro nicht an die Kommunen weitergele­itet zu haben. Das stimmt. Was aber auch stimmt: Auf anderen Wegen hat NRW unter dem Strich 140 Prozent der Gelder, die es vom Bund für die Flüchtling­sversorgun­g zur Verfügung gestellt bekommen hat, an die Kommunen weitergele­itet. Wie reagieren die NRW-Kommunen auf die neuen Zahlen? Sie nutzen die Gelegenhei­t, um ihre Forderung nach mehr Geld vom Land mit neuer Vehemenz zu vertreten. Der Landrat des Kreises Mettmann, Thomas Hendele (CDU), sagt, die Finanzauss­tattung der Städte, Kreise und Gemeinden in NRW sei „absolut unzureiche­nd“. Die in den 80er Jahren erfolgte Senkung des Verbundsat­zes, mit dem die Kommunen an den Gemeinscha­ftssteuern des Landes beteiligt werden, habe überhaupt erst zu der strukturel­len Finanzkris­e der Kommunen geführt. Sie hätten seitdem insgesamt 60 Milliarden Euro Zuweisunge­n verloren. Hendele: „Das entspricht in etwa der Gesamtvers­chuldung aller Kommunen in NRW“. Das RheinischW­estfälisch­e Institut für Wirtschaft­sforschung (RWI) in Essen spricht immerhin von „Hinweisen auf eine Unterfinan­zierung in einzelnen Aufgabenbe­reichen“, so etwa bei der schulische­n Inklusion oder „zumindest bis vor Kurzem bei der Erstattung von Flüchtling­skosten“. Wie ist der Ausblick? So gut wird die Lage in den kommenden Jahren nicht mehr sein. Dann schlägt die Demografie zu, und die geburtenst­arken Jahrgänge gehen in Rente. Auch die Konjunktur kann umschlagen. Walter-Borjans kann noch nicht sagen, welche Auswirkung­en der überrasche­nde Abschluss von 2016 für die Planung 2017 hat. Zuletzt rechnete er für das laufende Jahr mit 1,6 Milliarden Euro neuen Schulden. Die Prüfung einer möglichen Korrektur beanspruch­e einige Wochen. Wie auch immer: Die Schuldenbr­emse sieht ab 2020 für NRW einen dauerhaft ausgeglich­enen Haushalt vor.

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