Rheinische Post

„Orestie“ohne Götter am Schauspiel­haus

Zum Auftakt der Spielzeit inszeniert Simon Solberg die Tragödie als kompakte Geschichte der Gewalt – und wagt einen Ausblick.

- VON DOROTHEE KRINGS

Agamemnon hat zu viel Blut gesehen. Der griechisch­e Feldherr hat den Krieg gegen Troja zwar gewonnen, doch heimgekehr­t mag er seinen Palast nicht über den kostbaren Purpurtepp­ich betreten. Ihm ist nicht mehr nach Luxus. Er hat die Bilder der Toten im Kopf, die sein Sieg gekostet hat. Und so rollt Regisseur Simon Solberg in seiner Inszenieru­ng der „Orestie“am Schauspiel­haus dem traumatisi­erten Helden gar nicht erst den verhängnis­vollen Ehrenteppi­ch aus, sondern lässt die Darsteller seines Chores auf den Boden sinken. Über ihre Leiber muss Agamemnon die Stufen zu seinem Palast erklimmen. Über Leichen gehen. Bald wird auch er tot sein. teil der Mehrheit den Einzelnen aus dem Zwang ewiger Blutrache erlöst.

Im Mythos sind es die Götter, die dem Menschen diesen neuen Weg weisen. Simon Solberg dagegen hat alle göttlichen Instanzen abgeschaff­t. Bei ihm gibt es nur den Menschen mit seinen Gefühlen, inneren Stimmen, sozialisie­rten Verhaltens­weisen. So ist es in dieser Inszenieru­ng am Ende Orests Schwester Elektra, die um ein Ende der Gewalt bittet und ein rasendes Volk für die Idee der Demokratie gewinnt.

Diesen kühnen Eingriff verkraftet das Stück erstaunlic­h gut. Solberg erzählt eine schlüssige Geschichte, wenn auch manche Bezüge seiner Inszenieru­ng in die Gegenwart beliebig erscheinen. So lässt er die getötete Iphigenie als Mädchen mit geschorene­n Haaren neben einem jüdischen Grabstein auf die Bühne kriechen. Ein Verweis auf deutsche Schuld, der sich nicht erschließt und so dahingeste­llt auch wenig sagt. An anderer Stelle bedient er sich plötzlich eines Trash-Elements: Orest tritt wie in einem billigen Fantasyfil­m mit Krokodilko­pf aus Styropor auf. Er ist der Drache, den die Mutter selbst gebar. Später wird er sich als Islamist entpuppen, als zorniger junger Mann mit Bart und schwarzem Gewand, der es für seine heilige Pflicht hält, die moralisch zweifelhaf­te Mutter zu töten.

So holt Solberg den 2500 Jahre alten Aischylos-Text assoziativ in die Gegenwart, findet nicht die eine Deutungsli­nie, setzt aber viele Impulse und verliert die Geschichte nicht aus dem Blick. Dazu hat er ein starkes Ensemble. Minna Wündrich etwa ist in einer Sekunde die Rachegatti­n Klytaimnes­tra mit antikem Haarkranz, die heiße Tränen um ihr totes Kind weint und den Hass auf ihren untreuen Ehemann mit kaltem Zorn zwischen den Zähnen hervorpres­st. Im nächsten Moment ist sie die moderne Businessfr­au, die von Schuld nichts wissen will, und ihren Liebhaber gleich zum Champagner in den Kühlschran­k sperrt. Claudia Hübbecker gibt Kassandra ohne Orakelhoku­spokus als aufgeklärt­e Seherin. Thomas Wittmann muss als Agamemnon anfangs zwar aussehen wie Herbert Knebel, gibt seiner Figur aber dennoch väterliche Würde. Und auch Lieke Hoppe, Stefan Gorski und Jonas Friedrich Leonhardi wechseln glaubhaft zwischen antikem Pathos und Anspielung­en auf heutige Varianten ihrer Figuren. Dazu wird mit Klarheit gesprochen. Große Dynamik bringt der Chor ins Spiel. Die Darsteller sind noch Studenten an der Essener Folkwangsc­hule, teils im Fach Gesang, und werden zu heimlichen Hauptdarst­ellern dieser Inszenie- rung. Sie sind nicht nur die chorisch kommentier­enden Begleiter der Handlung, sondern spielen sich hervor, werden zu Charaktere­n, die im Kollektiv das ängstliche, zürnende, jammernde, auftrumpfe­nde Volk verkörpern.

Aus dieser Gruppe tritt am Ende Kassandra noch einmal hervor. Solberg und sein Team haben dem Original des Aischylos ein eigenes Ende angehängt: Die Seherin beschwört eine demokratis­che Zukunft in Frieden und Gerechtigk­eit, befreit von Angst. Und sie wendet sich direkt an das Publikum, macht jeden Einzelnen verantwort­lich für die Gestaltung der Zukunft. So viel Optimismus ist selten im Theater, und der Appell rührt. Nur zeigt die „Orestie“ja gerade, wie der Mensch Opfer der Verhältnis­se ist. Erst ein neues System – die Demokratie – kann das Individuum aus der Gewaltlogi­k befreien. Aufrecht also, an die Verantwort­ung jedes Einzelnen zu appelliere­n, schon die Griechen aber haben es besser gewusst.

Nach einer vor allem schauspiel­erisch intensiven Inszenieru­ng zum Auftakt der Saison gab es im Central viel Applaus.

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