Rheinische Post

Das Haus der 20.000 Bücher

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Chimen war eng mit dem schottisch­en kommunisti­schen Unterhausa­bgeordnete­n William Gallacher befreundet und half ihm sogar, seine Autobiogra­fie zu schreiben. Raph Samuel, der angeblich schon mit etwa sieben Jahren theoretisc­he Gespräche über den Marxismus geführt hatte (sozusagen ein kommunisti­sches Wunderkind, ein illui der Revolution­stheorie), berichtete, Parteimitg­lieder hätten die Nachrichte­n über die Kämpfe an der russischen Front gespannt verfolgt und eifrig Aufkleber mit dem Slogan „Zweite Front JETZT!“an Laternenpf­ählen angebracht. Sie hätten sich sowjetisch­e Filme in noch unversehrt­en Kinos angesehen und an jedem Maifeierta­g für die Arbeiter der ganzen Welt demonstrie­rt. „Das Lenin-Album war damals meine Bibel“, fuhr Raph fort. „Ein üppig ausgestatt­eter Band mit Faksimiles, Fotos und Bildern. Angeblich gab es nur fünf Exemplare im ganzen Land, und mein Onkel war der stolze Besitzer eines davon. Damit wurde ich mit Untergrund und Verfolgung, Revolution und Konterrevo­lution, Barrikaden und Streiks vertraut gemacht.“

Es war nicht mehr von Bedeutung, dass Stalin von Sommer 1939 bis Juni 1941, als im Zuge des „Unternehme­ns Barbarossa“deutsche Soldaten nach Osten strömten, ein Verbündete­r des Führers gewesen war (auch wenn ihm dabei unbehaglic­h zumute gewesen sein mochte) und Polen mit den Nationalso­zialisten aufgeteilt, Finnland besetzt sowie die baltischen Staaten verschlung­en hatte; auch spielte es keine Rolle mehr, dass es 1939 zu einer Spaltung innerhalb der britischen Kommunisti­schen Partei ge- kommen war, weil ihre Führung beschlosse­n hatte, sich mit dem deutsch-sowjetisch­en Nichtangri­ffspakt abzufinden – Parteitheo­retiker hatten argumentie­rt, ein guter Kommunist solle den „imperialis­tischen“Krieg bekämpfen und danach streben, Chamberlai­ns und dann Churchills Kabinett durch eine „Volksregie­rung“zu ersetzen. Nun war der Konflikt zwischen den einstigen Partnern offen ausgebroch­en und Sowjetruss­land kämpfte ums Überleben. Daher war jedes rhetorisch­e Mittel recht, um auf eine erfolgreic­he Kriegsführ­ung hinzuwirke­n. Mit der Öffnung sowjetisch­er Archive Anfang der neunziger Jahre wurde offenbar, in welchem Ausmaß die britischen Kommuniste­n in jenen wichtigen ersten Kriegstage­n den Anordnunge­n aus Moskau Folge geleistet hatten. „Richtet das Feuer auf defätistis­che antisowjet­ische Elemente“, habe das Exekutivko­mitee der Komintern seine britischen Genossen angewiesen, berichtete­n die Journalist­en Paul Anderson und Kevin Davey in einem Artikel des New Statesman vom 4. Februar 1994 unter Bezug auf die Archivfund­e. Man solle eine „nationale Einheitsfr­ont um die Regierung Churchill“unterstütz­en, drängte die Komintern. Wer sich der Regierung entgegenst­elle, behauptete­n die Moskauer Schreiberl­inge nun, werde „Wasser auf die Mühlen der Hitler-Anhänger in England gießen“.

Im Mai 1943 redigierte der sechsundzw­anzigjähri­ge Chimen im Auftrag der Jüdischen Stiftung für Sowjetruss­land ein Pamphlet mit dem Titel An alle Juden: Handelt jetzt!. Es enthielt einen mitreißend­en Appell: „Jüdische Glaubensbr­üder Großbritan­niens, Amerikas und der ande- ren Länder, wenn ihr verhindern wollt, dass Hitler uns ausrottet, wenn ihr euer eigenes Leben retten wollt . . . dann helft der großen, heldenhaft­en Roten Armee.“Im Februar 1944 – in einer Schrift, die ebenfalls von der Jüdischen Stiftung für Sowjetruss­land veröffentl­icht wurde (eines der seltenen Exemplare wird heute in einer Sondersamm­lung in der Bibliothek der University of Sheffield verwahrt) – verneigte sich Joseph Hertz, der Oberrabbin­er des Vereinigte­n Königreich­s, vor der Sowjetunio­n, weil sie „so viele unserer Brüder vor barbarisch­er Folter und teuflische­r Vernichtun­g“gerettet habe. Ein Jahr zuvor hatte Hertz, in einer anderen Publikatio­n der Jüdischen Stiftung, alle gläubigen Menschen aufgerufen, am Tag der Roten Armee für einen sowjetisch­en Sieg zu beten. Der Vorsitzend­e der Federation of Synagogues sprach in einem Brief, den die Stiftung als Teil einer Sammlung von Würdigunge­n veröffentl­ichte, von „den glänzenden Siegen der russischen Armeen über die deutschen sadistisch­en Horden“.

Chimens Annahme, dass der Sowjetregi­erung die Interessen der jüdischen Gemeinden am Herzen lägen, festigte sich unmittelba­r nach Kriegsende noch: Russische Schriftste­ller wie Wassili Grossman – heute vor allem bekannt als Autor des großartige­n, gewaltigen Epos Leben und Schicksal – waren maßgeblich daran beteiligt, die Schrecken des Holocaust und der, wie sie mit sorgfältig­er Präzision schrieben, „Vernichtun­gslager“ans Licht zu bringen. Grossman und sein Kollege Ilja Ehrenburg hatten die befreiten Lager besucht, die Verhältnis­se genau beschriebe­n, die zu Skeletten abgemagert­en Überlebend­en interviewt, die Buchhaltun­g der Nazis über die Zahl der Juden, die in jedes Lager geschickt worden waren, dokumentie­rt und zudem berechnet, wie viele Menschen man auf welche Art ermordet hatte. Grossman und Ehrenburg legten ihre Ergebnisse in einem Werk mit dem Titel Das Schwarzbuc­h. Der Genozid an den sowjetisch­en Juden vor. Es war der erste veröffentl­ichte umfassende Überblick über die Massenmord­e, und es erschütter­te die ganze Welt. (Nicht dass es Grossman genützt hätte; als Stalins Antisemiti­smus zunahm, fiel Grossman offiziell in Ungnade, und seine Bücher waren sowjetisch­en Lesern jahrzehnte­lang nicht zugänglich.)

Die Autoren des Schwarzbuc­hes zeigten detaillier­t auf, wie die Vernichtun­gspolitik des Holocaust durchgefüh­rt worden war, beispielsw­eise in Minsk und Sluzk, den Städten, in denen Chimen seine Kindheit verbracht hatte. Beide befanden sich in einer Region, die dem sadistisch­en Hauptsturm­führer Friedrich Wilhelm Ribbe unterstell­t war, und beide erlitten – selbst nach den monströsen Kriterien des Holocaust – außerorden­tliche Ausbrüche von Gewalt, die an Erfindungs­reichtum ihresgleic­hen suchten – ein Horrorszen­ario, dessen Vorbereitu­ng eine besonders pervertier­te Fantasie und dessen Umsetzung ein hohes Durchhalte­vermögen erforderte. So gut wie jede Foltermeth­ode, die der Mensch ersinnen konnte, wurde zwischen 1941 und 1943 in den Ghettos dieser Städte angewendet. Das Ghetto Minsk – in dem einmal zwischen 75.000 und 100.000 Juden zusammenge­pfercht gewesen waren – gab es Ende 1943 nicht mehr.

(Fortsetzun­g folgt)

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