Jetzt geht’s los
Heute beginnt in Russland die Fußball-Weltmeisterschaft. Sie ist schon vor dem ersten Anstoß ein Turnier voller Widersprüche und großer Zweifel.
Mittwochvormittag machte die deutsche Fußball-Nationalmannschaft mit einem öffentlichen Training im beschaulichen Moskauer Vorort Watutinki ein bisschen Werbung fürs Produkt. Kinder in Deutschland-Trikots schwenkten Fähnchen, Mädchen kreischten fröhlich, wenn der Bundestrainer in die Menge winkte. Freundliche Einweiser zeigten den Besuchern mit überdimensionalen Fingern aus Kunststoff den rechten Weg. Und dazu schien auch noch die Sonne. Ein WM-Idyll wie aus dem Hochglanzprospekt. Aber es ist nur eine scheinbare Nähe, die da inszeniert wird. Nach dem Training verschwinden die Fußballspieler in einem Bus mit abgedunkelten Scheiben, der sie in ein Luxusquartier tief im Wald transportiert. Umgeben ist die Herberge von hohen Zäunen, und bewacht wird sie von grimmigen Sicherheitsleuten. Deutschlands beste Fußballer leben dort in ihrem Parallel-Universum. Sie sind an diesen gelebten Widerspruch gewöhnt, sie haben sich in ihrer Scheinwelt eingerichtet. Und dass sie von dort zu den Spielen, zu ihren Auftritten auf die große Bühne gehen, passt. Ein Hauch von Unwirklichkeit umweht sie. Manchmal wirken sie wie die Wesen aus den Videospielen, in denen ihre Ebenbilder wirken. Der Widerspruch zwischen scheinbarer Volksnähe und berufsbedingter Entrücktheit ist eine der seltsamen Seiten der Fußball-Weltmeisterschaft, die am Donnerstag mit dem Spiel des Gastgebers Russland gegen Saudi-Arabien eröffnet wird. Eine weitere ist die Tatsache, dass ein Regime, das mit den Menschenrechten einen sehr eigenen Umgang pflegt, das in der Ostukraine Krieg führt und die Krim völkerrechtswidrig annektiert hat, sich vor aller Welt als Gastgeber einer fröhlichen und sauberen Veranstaltung aufführen darf. Der Fußball-Weltverband Fifa hat in Gestalt seines Präsidenten Gianni Infantino alle Bedenken gegen eine WM in Wladimir Putins Land vom Tisch gefegt. „Russland wird die beste Weltmeisterschaft aller Zeiten veranstalten“, sagte Infantino, bevor er Putin in die Arme fiel. Von wegen: Der Sport ist nicht politisch. Die deutschen Politiker gehen nur vornehm auf Distanz. Kanzlerin Angela Merkel hat einen Besuch der WM-Spiele nicht ausgeschlossen, von einem Reise-Boykott der Politik ist keine Rede. Und DFB-Präsident Reinhard Grindel beteuert: „Es geht hier um Fußball.“Natürlich geht es längst um mehr, um Ansehen und vor allem um Geld, das der Fifa zufließt. Sie finanziert sich zum größten Teil aus den Einnahmen der WM-Turniere. Zwei Milliarden Euro wird sie in Russland einnehmen. Der Gastgeber lässt sich den Eindruck eines völkerverbindenden Fests in einem fröhlichen Land gigantische Summen kosten. Mindestens zehn Milliarden Euro wurden in Stadionbau und Infrastruktur gesteckt. Weder die Fifa noch die Russen selbst wollen sich an den Diskussionen über grassierende Korruption und den Verdacht des Missbrauchs nordkoreanischer Sklavenarbeiter beim teuersten Projekt beteiligen, dem Stadionbau in St. Petersburg, der 800 Millionen Euro verschlang. Solche Diskussionen stören das Bild. Damit es störungsfrei bleibt, investierten die Russen in Sicherheit wie nie zuvor. Eine halbe Million Sicherheitskräfte soll verhindern, dass sich Hooligans zu nah kommen, Terroristen die Veranstaltung bedrohen oder eben auch Fans die Mannschaften zu sehr belästigen. Dagegen mutet das besondere deutsche Problem marginal an. Die Affäre um die Fotosession der türkischstämmigen Spieler Ilkay Gündogan und Mesut Özil mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist noch nicht ausgesessen. Der Versuch des Verbands, den Fans ihre Meinung zu verbieten, die in Pfiffen und aufgebrachten Wortbeiträgen hör- und sichtbar wurde, ist gescheitert. Auch hier offenbart sich ein Widerspruch – zwischen Teilen der Basis und jenen, die das Produkt Nationalelf verantworten.
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