Fast die Hälfte aller WM-Tore fallen nach Standards
Ruhende Bälle sind bei dieser Weltmeisterschaft eine Waffe – 69 der bisher 158 Treffer fielen nach einem Pfiff des Schiedsrichters.
DÜSSELDORF Das Erfolgsrezept bei der Weltmeisterschaft in Russland: Beinhart verteidigen, per Standard siegen. „Es war ein bisschen wie bei Atletico“, witzelte der Franzose Antoine Griezmann nach dem 1:0-Sieg im Halbfinale gegen Belgien. Der einzige Treffer der Partie fiel durch einen Kopfball von Samuel Umtiti – nach einer Ecke von Griezmann. Dieses Tor steht sinnbildlich für die große Bedeutung, die Standards bei diesem Turnier haben. 158 Treffer fielen bisher, 69 von ihnen ging ein ruhender Ball voraus. Damit kamen 44 Prozent und fast die Hälfte aller erfolgreichen Torabschlüsse nicht aus dem Spiel heraus zustande.
Die Standard-Experten in diesem Turnier sind die Engländer. Hier sind sie so gefährlich wie kein anderes Team. Acht ihrer elf Tore fielen nach einem Pfiff des Schiedsrichters: Vier Ecken, drei Elfmeter und ein Freistoß führten zum Erfolg. Beispiel- haft war dieVorrunden-Partie gegen Tunesien, die die Briten knapp mit 2:1 für sich entschieden. 90 Minuten lang lief England gegen das Abwehrbollwerk der Nordafrikaner an. Den Erfolg brachten am Ende zwei Eckbälle, die Stürmer Harry Kane im Tor unterbrachte.
Standards als Erfolgsrezept sind in dieser Dimension durchaus eine Neuerung. Zum Vergleich: Bei der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien fielen nur 38 der insgesamt 171 Tore nach ruhenden Bällen. Das entspricht einer Quote von rund 22 Prozent. Beim Turnier in Russland waren es fast doppelt so viele Treffer nach Standards. Das bedeutet aber nicht, dass Ecken und Freistöße erst seit dieser Weltmeisterschaft zum Erfolg führen. Ausgerechnet Deutschland brachte den Ball beim WM-Sieg vor vier Jahren häufig nach ruhenden Bällen im Tor unter: Sechs Standardtore erzielte „Die Mannschaft“in Brasilien.
Das war auch Englands Coach Ga- reth Southgate während der Vorbereitung auf das Turnier in Russland aufgefallen. Stundenlang sezierte Southgate Videos von Spanien und Deutschland bei den WM-Siegen 2010 und 2014.Was für Ästheten profan anmuten mag, war schon bei den vergangenen Turnieren ohne Frage ein probates Mittel auf dem Weg zum Titel. „Die Standards waren ein größerer Faktor, als es viele Leute realisiert haben“, sagte Southgate der BBC und machte Standardsituationen zu einem permanenten Bestandteil des Trainings. Außerdem besuchte Englands Coach die USA und beschäftigte sich intensiv mit der NBA und NFL. Die Laufwege seiner Spieler in Russland bei ruhenden Bällen erinnern frappierend an Strategien aus dem Basketball oder Football, um die Gegner wegzublocken. „Wir haben Standards als Schlüssel für dieses Turnier identifiziert“, erläuterte Southgate.
Eine Erkenntnis, die im deutschen Team wohl nicht angekommen war. Zwar erzielte „Die Mannschaft“exakt 50 Prozent ihrer Tore nach Standards – es waren aber auch insgesamt nur zwei. Die 25 ausgeführten Ecken des Teams führten überhaupt nicht zum Erfolg. Lag das an man- gelnder Übung? 2014 ließ Löws damaliger Trainerassistent Hansi Flick im brasilianischen „Campo Bahia“akribisch verschiedenen Standard-Varianten einstudieren. Unterstützt hatte ihn der Stan- dard-Experte Lars Voßler vom SC Freiburg, der weiterhin als Co-Trainer der Breisgauer seinen Anteil am Erstliga-Verbleib hat: Der Sportclub erzielte in der vergangenen Saison mehr als die Hälfte seiner Tore nach einem ruhenden Ball.
Flick hingegen verließ nach der WM 2014 das Trainer-Team der Nationalmannschaft. Und Joachim Löw, sein ehemaliger Chef, kann bis heute seine Skepsis gegen die EckeTor-Logik nicht verheimlichen. Diese sei im Trainingslager für die WM in Russland„scho au“ein Thema gewesen, erzählte er.
Die hohe Quote der Standardtore bei dieser Weltmeisterschaft liegt indes auch in einem Rekord an Elfmetern begründet. Vier Elfmeterschießen und 28 Strafstöße aus dem Spiel gab es bislang, 21 davon wurden verwandelt. Der bisherige Rekord stammte aus dem Jahr 2002, damals gab es 18 Elfmeter.
Mit Material von dpa.