Auf neue Wege
Als Leiter des Jugendamtes musste Alfred Kanth viele Tragödien mitansehen, musste weitreichende Entscheidungen treffen – und konnte doch oft helfen. Jetzt hat er ein neues Ziel
Es gibt einen Fall, der hat ihn sehr mitgenommen und über Jahre verfolgt. Ein sechsjähriges Mädchen wird von seiner Großmutter entführt. Das Schicksal der Kleinen ist tragisch: die Mutter umgebracht, der Vater im Gefängnis. Die Oma ist die einzige Verwandte, doch die beiden kennen sich nicht. Also fährt das Mädchen im Urlaub zur Großmutter nach Ungarn – und kommt nie wieder zurück. Alfred Kanth ist damals als Jugendamtsmitarbeiter mit dem Fall betraut, kennt das Mädchen, baut eine Beziehung zu ihm auf. „Dass sie einfach nicht mehr greifbar war, hat mich damals sehr verfolgt. Ich konnte nächtelang nicht schlafen“, sagt er. „Das war das erste Mal, dass ich wegen der Arbeit Magenschmerzen hatte.“Noch heute, fast 20 Jahre später, fragt er sich, was aus dem Kind geworden ist.
Es waren viele Schicksale, die ihn durch seine Arbeitsjahre im Jugendamt des Landkreises begleitet haben. Als er nach seinem Studium der Sozialpädagogik 1976 als Praktikant dort anfing und vom damaligen Landrat direkt eine Stelle angeboten bekam, konnte er nicht ahnen, dass er sein ganzes Berufsleben dort verbringen würde. Am Ende leitete er über 20 Jahre den Bereich Jugend, Familie und Senioren, der während seiner Zeit auf 70 Mitarbeiter anwuchs. „Mit der Zeit lernt man, dass man die Geschichten aus der Arbeit nicht mit nach Haus trägt. Man wird professioneller“, sagt der zweifache Familienvater. „Aber Bestimmtes wird man einfach nicht mehr los, gerade, wenn man selbst Kinder hat.“
Dazu gehört auch der Todesfall eines Kleinkindes in Nördlingen, das vom Vater an seinem ersten Geburtstag erstickt wird. Belastend sind dabei nicht nur die Schicksale der Personen, sondern auch der Zwang, in der Öffentlichkeit die Rolle des Jugendamtes zu verteidigen. Bundesweit wird damals berichtet. „Dass so eine Tragödie nicht abzusehen war, hat niemanden interessiert“, sagt Kanth. Auch nicht, als die Arbeit des Jugendamts von übergeordneter Stelle als makellos beurteilt wurde. „Zu diesem Pressetermin kam dann nur noch die Lokalzeitung“, sagt Kanth, der den Umgang mit den Medien erst lernen und üben musste. Krassester Fall war da natürlich der Konflikt mit der Glaubensgemeinschaft Zwölf Stämme in Klosterzimmern. Ein
hatte Kanth vor laufender Kamera mit den geheimen Filmaufnahmen konfrontiert, die die Schläge an den Kindern der Sekte bewiesen. Kanth fügte sich damals sehr ungern dieser Situation. „Ich wusste ja nicht, was das Material zeigt und wie wahrhaftig es ist.“Dass diese Beweise die Lebenssituation vieler Kinder der Glaubensgemeinschaft verbesserten, Handlungsgrund waren, sie aus den Familien zu nehmen, steht heute außer Frage. Die mediale Aufmerksamkeit war damals gigantisch und die Lage hochdramatisch.
Doch in der Mehrzahl waren es ja nicht die spektakulären Schicksale, die seinen Arbeitsalltag prägten. Als Leiter war die Distanz zu den Scheidungsfällen und Problemfamilien natürlich größer. Doch Kanth stellt fest, dass sich Familie an sich verändert. „Früher wurde sehr autoritär erzogen und die Kinder waren sehr auf die Mutter fixiert. Heute agieren die Eltern partnerschaftlicher, viele Mütter sind berufstätig und die Kinder lange in der Schule.“Gleichzeitig habe sich das Spielverhalten der Kinder komplett verändert. „Die digitale Welt ersetzt den Ausflug in den Wald oder den realen Freundeskreis.“Kanth macht das Sorge: „Man muss gut aufpassen, dass Kinder nicht vereinsamen und zu sehr abtauchen“, sagt er. Doch er will nicht schwarzmalen. „Das ist nur ein Teil der Jugendlichen, die wirklich gefährdet sind. Unsere Kinder sind nicht schlechter oder besser als früher.“Zumal die Sensibilität der Eltern auf die Nutzung von Computer und Smartphones heute deutlich höher sei als noch vor 15 Jahren.
Kanth, der betont, dass er in all den Jahren nur dank seiner gut arbeitenden Mitarbeiter erfolgreich agieren konnte, wünscht vor allem den Eltern in Zukunft vor eines: mehr Zeit mit ihren Kindern – ohne großes Programm und Show. „Einfach nur zusammen Zeit verbringen und miteinander spielen“, sagt er. Das würde auch für sein Team, das er jetzt an Johann Braun und Adalbert Singer übergeben hat, weniger Arbeit bedeuten. Zeit will sich Kanth, der von Kollegen und Kreisräten herzlich verabschiedet wurde, nun auch selbst nehmen – für die Erfüllung seines lange gehegten Traumes: Er wird den Jakobsweg gehen.
Am Dienstag bricht er auf nach Lourdes. Zusammen mit einem Freund geht er bis nach Santiago di Compostella. Sechs Wochen – einfach nur Laufen und die Gedanken ziehen lassen. „Ich wollte das immer in einem Stück wandern. Dafür ist jetzt endlich der richtige Moment gekommen“, sagt er voller Vorfreude. Das Stempelheft als Pilger hat er bereit gelegt. Es ist der Moment, zu neuen Zielen aufzubrechen.