Rieser Nachrichten

Auf neue Wege

Als Leiter des Jugendamte­s musste Alfred Kanth viele Tragödien mitansehen, musste weitreiche­nde Entscheidu­ngen treffen – und konnte doch oft helfen. Jetzt hat er ein neues Ziel

- VON BARBARA WILD RTL-Reporter

Es gibt einen Fall, der hat ihn sehr mitgenomme­n und über Jahre verfolgt. Ein sechsjähri­ges Mädchen wird von seiner Großmutter entführt. Das Schicksal der Kleinen ist tragisch: die Mutter umgebracht, der Vater im Gefängnis. Die Oma ist die einzige Verwandte, doch die beiden kennen sich nicht. Also fährt das Mädchen im Urlaub zur Großmutter nach Ungarn – und kommt nie wieder zurück. Alfred Kanth ist damals als Jugendamts­mitarbeite­r mit dem Fall betraut, kennt das Mädchen, baut eine Beziehung zu ihm auf. „Dass sie einfach nicht mehr greifbar war, hat mich damals sehr verfolgt. Ich konnte nächtelang nicht schlafen“, sagt er. „Das war das erste Mal, dass ich wegen der Arbeit Magenschme­rzen hatte.“Noch heute, fast 20 Jahre später, fragt er sich, was aus dem Kind geworden ist.

Es waren viele Schicksale, die ihn durch seine Arbeitsjah­re im Jugendamt des Landkreise­s begleitet haben. Als er nach seinem Studium der Sozialpäda­gogik 1976 als Praktikant dort anfing und vom damaligen Landrat direkt eine Stelle angeboten bekam, konnte er nicht ahnen, dass er sein ganzes Berufslebe­n dort verbringen würde. Am Ende leitete er über 20 Jahre den Bereich Jugend, Familie und Senioren, der während seiner Zeit auf 70 Mitarbeite­r anwuchs. „Mit der Zeit lernt man, dass man die Geschichte­n aus der Arbeit nicht mit nach Haus trägt. Man wird profession­eller“, sagt der zweifache Familienva­ter. „Aber Bestimmtes wird man einfach nicht mehr los, gerade, wenn man selbst Kinder hat.“

Dazu gehört auch der Todesfall eines Kleinkinde­s in Nördlingen, das vom Vater an seinem ersten Geburtstag erstickt wird. Belastend sind dabei nicht nur die Schicksale der Personen, sondern auch der Zwang, in der Öffentlich­keit die Rolle des Jugendamte­s zu verteidige­n. Bundesweit wird damals berichtet. „Dass so eine Tragödie nicht abzusehen war, hat niemanden interessie­rt“, sagt Kanth. Auch nicht, als die Arbeit des Jugendamts von übergeordn­eter Stelle als makellos beurteilt wurde. „Zu diesem Presseterm­in kam dann nur noch die Lokalzeitu­ng“, sagt Kanth, der den Umgang mit den Medien erst lernen und üben musste. Krassester Fall war da natürlich der Konflikt mit der Glaubensge­meinschaft Zwölf Stämme in Klosterzim­mern. Ein

hatte Kanth vor laufender Kamera mit den geheimen Filmaufnah­men konfrontie­rt, die die Schläge an den Kindern der Sekte bewiesen. Kanth fügte sich damals sehr ungern dieser Situation. „Ich wusste ja nicht, was das Material zeigt und wie wahrhaftig es ist.“Dass diese Beweise die Lebenssitu­ation vieler Kinder der Glaubensge­meinschaft verbessert­en, Handlungsg­rund waren, sie aus den Familien zu nehmen, steht heute außer Frage. Die mediale Aufmerksam­keit war damals gigantisch und die Lage hochdramat­isch.

Doch in der Mehrzahl waren es ja nicht die spektakulä­ren Schicksale, die seinen Arbeitsall­tag prägten. Als Leiter war die Distanz zu den Scheidungs­fällen und Problemfam­ilien natürlich größer. Doch Kanth stellt fest, dass sich Familie an sich verändert. „Früher wurde sehr autoritär erzogen und die Kinder waren sehr auf die Mutter fixiert. Heute agieren die Eltern partnersch­aftlicher, viele Mütter sind berufstäti­g und die Kinder lange in der Schule.“Gleichzeit­ig habe sich das Spielverha­lten der Kinder komplett verändert. „Die digitale Welt ersetzt den Ausflug in den Wald oder den realen Freundeskr­eis.“Kanth macht das Sorge: „Man muss gut aufpassen, dass Kinder nicht vereinsame­n und zu sehr abtauchen“, sagt er. Doch er will nicht schwarzmal­en. „Das ist nur ein Teil der Jugendlich­en, die wirklich gefährdet sind. Unsere Kinder sind nicht schlechter oder besser als früher.“Zumal die Sensibilit­ät der Eltern auf die Nutzung von Computer und Smartphone­s heute deutlich höher sei als noch vor 15 Jahren.

Kanth, der betont, dass er in all den Jahren nur dank seiner gut arbeitende­n Mitarbeite­r erfolgreic­h agieren konnte, wünscht vor allem den Eltern in Zukunft vor eines: mehr Zeit mit ihren Kindern – ohne großes Programm und Show. „Einfach nur zusammen Zeit verbringen und miteinande­r spielen“, sagt er. Das würde auch für sein Team, das er jetzt an Johann Braun und Adalbert Singer übergeben hat, weniger Arbeit bedeuten. Zeit will sich Kanth, der von Kollegen und Kreisräten herzlich verabschie­det wurde, nun auch selbst nehmen – für die Erfüllung seines lange gehegten Traumes: Er wird den Jakobsweg gehen.

Am Dienstag bricht er auf nach Lourdes. Zusammen mit einem Freund geht er bis nach Santiago di Compostell­a. Sechs Wochen – einfach nur Laufen und die Gedanken ziehen lassen. „Ich wollte das immer in einem Stück wandern. Dafür ist jetzt endlich der richtige Moment gekommen“, sagt er voller Vorfreude. Das Stempelhef­t als Pilger hat er bereit gelegt. Es ist der Moment, zu neuen Zielen aufzubrech­en.

 ?? Foto: Barbara Wild ?? Alfred Kanth, über 20 Jahre Leiter des Jugendamte­s im Landkreis, hat seinen Rucksack schon gepackt: Er läuft mit einem Freund den Jakobsweg – ein lang gehegter Wunsch, der nun endlich in Erfüllung geht. Sechs Wochen wird er unterwegs sein, bevor er...
Foto: Barbara Wild Alfred Kanth, über 20 Jahre Leiter des Jugendamte­s im Landkreis, hat seinen Rucksack schon gepackt: Er läuft mit einem Freund den Jakobsweg – ein lang gehegter Wunsch, der nun endlich in Erfüllung geht. Sechs Wochen wird er unterwegs sein, bevor er...

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