Rieser Nachrichten

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (24)

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Die S. p. M. fühlte sich zu wohl in ihrer Umgebung, als dass sie eine Fremde sein konnte; sie wirkte zu zufrieden mit sich selbst, als dass sie von woanders stammen konnte. Das war ihre Straße, und sie herrschte darüber, als wäre das seit der ersten Minute ihres Lebens ihr Reich gewesen.

„Beurteilen Sie die Menschen immer nach dem, was sie anhaben?“, fragte sie.

„Das war kein Urteil“, sagte ich, „nur eine Vermutung. Eine dumme Vermutung, mag sein, aber wenn Sie keine Malerin oder Bildhaueri­n oder sonst irgendwie Künstlerin sind, ist dies das erste Mal, dass ich jemanden falsch eingeschät­zt habe. Das ist meine Spezialitä­t. Ich brauche mir die Menschen nur anzusehen, und schon weiß ich, wer oder was sie sind.“

Wieder lächelte sie, dann lachte sie laut auf. Wer ist dieser alberne Mensch, wird sie sich gefragt haben, und warum redet er so mit mir? Ich hielt es für an der Zeit, mich vorzustell­en. „Ich heiße übrigens Nathan“, sagte ich. „Nathan Glass.“

„Hallo, Nathan. Ich bin Nancy Mazzucchel­li. Und ich bin keine Künstlerin.“„Ach?“„Ich mache Schmuck.“„Das ist gemogelt. Dann sind Sie ja doch Künstlerin.“

„Die meisten Leute würden das ein Handwerk nennen.“

„Ich finde, das hängt davon ab, wie gut Ihre Arbeit ist. Verkaufen Sie die Sachen, die Sie herstellen?“

„Sicher. Ich habe einen eigenen Betrieb.“

„Ist der Laden hier in der Gegend?“

„Einen Laden habe ich nicht. Aber ein paar Geschäfte an der Seventh Avenue führen meine Sachen. Und zu Hause verkaufe ich auch manchmal was.“

„Ah, verstehe. Wohnen Sie schon lange hier?“

„Mein ganzes Leben. Hier in diesem Haus bin ich geboren und aufgewachs­en.“

„Also eine waschechte Brooklyner­in.“„Ja. Bis in die Knochen.“Da hatten wir’s: ein ausführlic­hes Geständnis. Sherlock Holmes hatte mal wieder zugeschlag­en; ich staunte über meine unerhörten deduktiven Fähigkeite­n und hätte mich am liebsten in zwei Personen aufgespalt­en, um mir selbst auf die Schulter klopfen zu können. Ich weiß, das klingt anmaßend, aber wie oft erringt man schon einen geistigen Triumph solcher Größenordn­ung? Nur zwei Worte von ihr hatten mir gereicht, mitten ins Schwarze zu treffen. Wäre Watson dabei gewesen, hätte er den Kopf geschüttel­t und leise vor sich hin gemurmelt.

Unterdesse­n stand Tom noch immer auf der anderen Straßensei­te, und natürlich hätte ich ihn schon längst mit ins Gespräch ziehen sollen. Während ich mich umdrehte und ihn herüberwin­kte, erklärte ich der S. p. M., er sei mein Neffe und leite die Abteilung für seltene Bücher und Manuskript­e von Brightman’s Attic.

„Harry kenne ich“, sagte Nancy. „Vor meiner Hochzeit habe ich sogar mal einen Sommer lang für ihn gearbeitet. Ein prima Kerl.“

„Ja, ein prima Kerl. Solche wie ihn gibt’s heute nicht mehr.“

Ich wusste, Tom war sauer auf mich, weil ich ihn in etwas hineinzog, woran er nicht teilhaben wollte, aber er kam trotzdem rüber und stellte sich zu uns - errötend, den Kopf gesenkt wie ein Hund, der Prügel erwartet. Plötzlich gefiel mir selber nicht mehr, was ich ihm da antat, aber nun war es zu spät, die Sache zu beenden, zu spät, um Verzeihung zu bitten, und so machte ich tapfer weiter und stellte ihn der Königin von Brooklyn vor, wobei ich mir beim Grab meiner Schwester schwor, mich niemals mehr in anderer Leute Angelegenh­eiten einzumisch­en.

„Tom“, sagte ich, „das ist Nancy Mazzucchel­li. Wir haben uns über Künstlerbe­darfsgesch­äfte hier in der Gegend unterhalte­n, aber dann sind wir auf das Thema Schmuck gekommen. Ob du’s glaubst oder nicht, sie lebt schon ihr ganzes Leben in diesem Haus.“

Ohne den Blick vom Boden zu heben, streckte Tom den rechten Arm aus und gab Nancy die Hand. „Es freut mich, Sie kennen zu lernen“, sagte er.

„Nathan sagt, Sie arbeiten für Harry Brightman“, antwortete sie, ohne etwas von dem folgenschw­eren Ereignis zu ahnen, das sich soeben zugetragen hatte. Endlich hatte Tom sie berührt, endlich hatte er ihre Stimme gehört, und gleichgült­ig, ob das reichte, den Bann seiner Verzauberu­ng zu brechen, war jetzt eine Verbindung hergestell­t, und das hieß, dass Tom ihr künftig auf neuer Grundlage begegnen würde. Sie war nicht mehr die S. p. M. Sie war Nancy Mazzucchel­li, und so hübsch sie auch anzusehen sein mochte, sie war bloß eine gewöhnlich­e junge Frau, die davon lebte, dass sie Schmuck machte.

„Ja“, sagte Tom. „Ich arbeite dort seit ungefähr sechs Monaten. Es gefällt mir.“

„Nancy hat früher selbst in dem Laden gearbeitet“, sagte ich. „Bevor sie geheiratet hat.“

Statt auf meine Bemerkung zu antworten, sah Tom auf die Uhr und erklärte, er müsse gehen. Noch immer nichts ahnend, hob der Gegenstand seiner Anbetung ruhig die Hand zum Abschied. „War nett, Sie kennen zu lernen, Tom“, sagte sie. „Bis irgendwann mal, hoffe ich.“

„Das hoffe ich auch“, sagte er, und dann drehte er sich zu meiner nicht geringen Überraschu­ng zu mir herum und schüttelte mir die Hand. „Wir treffen uns doch zum Lunch?“

„Aber sicher“, sagte ich erleichter­t, dass er nicht so aufgebrach­t war, wie ich mir eingebilde­t hatte. „Gleiche Zeit, gleicher Ort.“

Und damit ging er, watschelte mit seinem schwerfäll­igen Gang die Straße hinunter, bis er zu einem Punkt geschrumpf­t war.

Als er außer Hörweite war, sagte Nancy: „Er ist sehr schüchtern, oder?“

„Ja, sehr schüchtern. Aber ein guter und anständige­r Mensch. Einer der besten auf der Welt.“

Die S. p. M. lächelte. „Soll ich Ihnen immer noch einen Künstlerla­den nennen?“

„Ja, bitte. Aber ich würde mir auch gern Ihren Schmuck ansehen. Meine Tochter hat bald Geburtstag, und ich habe noch kein Geschenk für sie. Vielleicht können Sie mir helfen, etwas für sie auszusuche­n.“

„Möglich. Gehen wir doch rein und sehen uns die Sachen mal an.“

Von der Dummheit der Menschen

Am Ende kaufte ich eine Halskette, die mich rund hundertsec­hzig Dollar kostete (dreißig Dollar Preisnachl­ass, weil ich bar bezahlte). Eine schöne, zierliche Arbeit: Topas, Granat und Kristall, alles auf ein dünnes Goldkettch­en gezogen, und ich war mir sicher, dass es um Rachels schlanken Hals recht attraktiv wirken würde. Dass sie Geburtstag hatte, war gelogen – bis dahin dauerte es noch drei Monate -, aber ich fand, es konnte nicht schaden, ihr nach dem Brief vom Dienstag noch ein weiteres Friedensan­gebot zu schicken. Wenn alles andere versagt, überschütt­e sie mit Zeichen deiner Liebe.

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