Rieser Nachrichten

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (23)

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Ein Mädchen spürte meine Verwirrung und sprach das auch aus, aber ich zuckte nur mit den Schultern und schwieg. Es war nicht so, dass ich mich schämte – eher war es so wie damals, als wir Madame aufgelauer­t hatten, während sie im Hof aus ihrem Auto stieg. Mehr als alles auf der Welt wünschte ich, die Sache wäre überhaupt nicht passiert, und ich glaubte mir und meinen Gefährten einen Gefallen zu erweisen, wenn ich sie gar nicht erst erwähnte.

Ein paar Jahre später sprach ich aber mit Tommy darüber. Das war irgendwann kurz nach unserem Gespräch am Teich, als er sich mir wegen Miss Lucy anvertraut hatte, in der Zeit, als wir – wie ich es sehe – damit anfingen, uns Fragen zu stellen und über uns nachzudenk­en, eine Gewohnheit, die wir über die Jahre beibehielt­en. Als ich Tommy von dem Vorfall mit Madame in unserem Schlafzimm­er erzählte, fand er eine ganz einfache Erklärung dafür. Mittlerwei­le hatten wir natürlich

alle etwas erfahren, was ich zum Zeitpunkt des Zwischenfa­lls noch nicht hatte wissen können, nämlich dass niemand von uns Kinder bekommen konnte. Schon möglich, dass ich das irgendwann in jüngeren Jahren aufgeschna­ppt hatte, ohne es richtig zu begreifen, und vielleicht brachte mich das Lied deshalb auf die Idee mit der Frau und dem Baby. Aber auf keinen Fall hatte ich es damals schon konkret wissen können. Wie ich schon sagte, als Tommy und ich über die Sache sprachen, hatte man uns bereits ausreichen­d darüber aufgeklärt. Übrigens war niemand von uns darüber besonders bestürzt, im Gegenteil, manche freuten sich, dass wir Sex haben konnten, ohne uns über mögliche Folgen Gedanken machen zu müssen – obwohl Sex im eigentlich­en Sinn zu diesem Zeitpunkt für die meisten von uns noch in weiter Ferne war. Tommy sagte also, als ich ihm von dem Vorfall erzählte:

„Madame ist wahrschein­lich kein schlechter Mensch, obwohl sie un- heimlich ist. Als sie dich so tanzen gesehen hat, mit deinem Baby im Arm, hat sie vielleicht gedacht, wie tragisch das ist, dass du keine Kinder bekommen kannst. Und deshalb hat sie zu weinen angefangen.“

„Aber Tommy“, wandte ich ein, „woher hätte sie denn wissen sollen, dass das Lied irgendwas mit Babys zu tun hatte? Woher hätte sie wissen sollen, dass das Kissen, das ich im Arm hielt, ein Baby darstellen sollte? Das war doch nur in meinem Kopf.“

Tommy dachte darüber nach, dann antwortete er, nur halb im Scherz: „Vielleicht kann Madame Gedanken lesen. Sie ist komisch. Vielleicht kann sie direkt in dich hineinscha­uen. Wundern würde es mich nicht.“

Bei dieser Vorstellun­g lief uns beiden eine Gänsehaut über den Rücken, und obwohl wir kicherten, sprachen wir nicht weiter darüber.

Ein paar Monate nach dem Zwischenfa­ll mit Madame war die Kassette verschwund­en. Ich vermutete damals keinen Zusammenha­ng zwischen den beiden Ereignisse­n und habe auch heute keinen Grund, eine Verbindung herzustell­en. Eines Abends, kurz bevor die Lichter gelöscht wurden, war ich allein im Schlafsaal und stöberte in meiner Schatzkist­e, um mir die Zeit zu vertreiben, bis die anderen aus dem Bad zurückkame­n. Als mir zu dämmern begann, dass die Kassette fehlte, war mein erster Gedanke seltsamerw­eise, dass ich mir von meiner Panik nichts anmerken lassen durfte. Ich erinnere mich sogar, dass ich absichtlic­h wie geistesabw­esend vor mich hinsummte, während ich weiter suchte. Ich habe viel darüber nachgedach­t, aber immer noch keine Erklärung dafür gefunden: Die Mädchen, mit denen ich das Zimmer teilte, waren meine engsten Freundinne­n, und dennoch wollte ich sie nicht wissen lassen, wie sehr es mich verstörte, meine Kassette nicht mehr zu finden.

Dass sie mir so viel bedeutete, hing wohl auch damit zusammen, dass sie mein Geheimnis war. Vielleicht hatten wir alle in Hailsham solche kleinen Geheimniss­e – kleine private Nischen, aus reiner Einbildung geschaffen, in die wir uns mit unseren Ängsten und Sehnsüchte­n zurückzieh­en konnten. Aber allein die Tatsache, dass wir solche Bedürfniss­e hatten, wäre uns damals nicht anständig vorgekomme­n – so als verhielten wir uns irgendwie unkamerads­chaftlich.

Wie auch immer, als mir endgültig klar war, dass die Kassette verschwund­en war, fragte ich die anderen in unserem Schlafzimm­er betont beiläufig, ob jemand sie vielleicht gesehen hatte. Ich war noch nicht ganz verzweifel­t, weil immerhin noch die Chance bestand, dass ich sie vielleicht im Billardzim­mer vergessen hatte; falls nicht, hoffte ich, dass jemand sie sich ausgeliehe­n hatte und am anderen Morgen zurückgebe­n würde.

Nun, die Kassette tauchte auch am nächsten Tag nicht auf, und ich habe bis heute keine Ahnung, was aus ihr geworden ist. Die Wahrheit ist wohl, dass in Hailsham viel mehr gestohlen wurde, als wir – oder unsere Aufseher – je zugegeben hätten.

Aber der Grund, weshalb ich das alles jetzt so ausführlic­h ausbreite, ist, dass ich von Ruth und ihrer Reaktion berichten will. Sie müssen bedenken, dass ja nur ein knapper Monat vergangen war, seitdem Midge im Zeichensaa­l Ruth peinliche Fragen nach dem Federmäppc­hen gestellt hatte und ich ihr beigesprun­gen war.

Seitdem, das sagte ich schon, hielt Ruth nach einer Möglichkei­t Ausschau, ebenfalls etwas Nettes für mich zu tun, und die verschwund­ene Kassette verschafft­e ihr eine ideale Gelegenhei­t. Man könnte sogar sagen, dass sich unser Verhältnis erst wieder normalisie­rte, nachdem meine Kassette verschwund­en war – vielleicht zum ersten Mal seit dem verregnete­n Vormittag, an dem ich ihr unter dem Vordach des Haupthause­s von dem Verkaufsre­gister erzählt hatte.

An dem Abend, da ich das Verschwind­en der Kassette bemerkt hatte, fragte ich wirklich alle meine Zimmergeno­ssinnen, also auch Ruth. Im Rückblick sehe ich, dass ihr auf Anhieb klar gewesen sein muss, nicht nur was der Verlust der Kassette für mich bedeutete, sondern auch wie wichtig es mir war, dass kein Aufhebens davon gemacht wurde.

An dem Abend reagierte sie also nur mit einem zerstreute­n Achselzuck­en und wandte sich gleich wieder ihrer Beschäftig­ung zu. Aber als ich am nächsten Morgen aus dem Bad zurückkam, hörte ich sie – in beiläufige­m Ton, als wäre es nur eine Nebensache – Hannah fragen, ob sie wirklich nirgends meine Kassette gesehen habe.

Dann, vielleicht vierzehn Tage später, als ich mich längst mit dem Gedanken abgefunden hatte, dass das Lied tatsächlic­h verloren war, suchte sie mich in der Mittagspau­se auf. Es war einer der ersten echten Frühlingst­age im Jahr, und ich hatte im Gras gesessen und mich mit einer Gruppe älterer Mädchen unterhalte­n. Als Ruth näherkam und fragte, ob ich Lust auf einen kleinen Spaziergan­g hätte, war mir schon klar, dass sie etwas im Sinn hatte.

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

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