Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (51)
ANur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
ls wir eintraten, fanden wir die Frau, die wir verfolgt hatten, im Gespräch mit einer um einiges älteren, silberhaarigen Dame, offensichtlich der Galeristin. Sie saßen einander gegenüber an einem kleinen Schreibtisch nahe dem Eingang, sonst war niemand da. Keine der beiden schenkte uns besondere Aufmerksamkeit, als wir an ihnen vorbeigingen, uns auf die zwei Räume verteilten und so taten, als würden uns die Bilder in den Bann schlagen.
Tatsächlich begannen sie mir zu gefallen, obwohl sich meine Gedanken ständig um Ruths Mögliche drehten, und ich genoss die friedliche Stille hier. Es war, als wären wir hundert Meilen vom Geschäftsviertel entfernt. Die Wände und Decken waren minzgrün, hier und dort hingen hoch oben an der Bilderleiste ein Stück Fischernetz, eine morsche Schiffsplanke. Auch die Bilder selbst, vorwiegend Ölgemälde in tiefen Blau- und Grüntönen, waren Seestücke. Vielleicht hatte uns auf einmal die Müdigkeit eingeholt –
schließlich waren wir seit Tagesanbruch auf den Beinen, jedenfalls war ich nicht die Einzige, die in dieser Galerie in Tagträumereien abglitt. Wir hatten uns in verschiedene Ecken zurückgezogen und betrachteten ein Bild nach dem anderen, stumm, nur gelegentlich unterbrochen von einer gedämpften Bemerkung wie: „Kommt, seht euch das an!“Während der ganzen Zeit hörten wir Ruths Mögliche und die silberhaarige Dame pausenlos miteinander reden. Sie waren nicht besonders laut, aber in der Stille der Galerie schienen ihre Stimmen den ganzen Raum auszufüllen. Sie sprachen über einen Mann, einen gemeinsamen Bekannten, der offenbar nicht mit seinen Kindern zurechtkam. Und während wir sie belauschten und hin und wieder einen verstohlenen Blick in ihre Richtung warfen, begann sich etwas zu verändern. Ich spürte es, und ich war mir sicher, dass es die anderen nicht weniger deutlich spürten. Hätten wir die Frau nur durch die Glasscheibe ihres Büros beobachtet, wären wir ihr meinetwegen auch noch durch die Stadt gefolgt, um sie dann aus den Augen zu verlieren, so hätten wir immer noch begeistert und triumphierend in die Cottages zurückkehren können. Aber jetzt, in dieser Galerie, war uns die Frau zu nahe, viel näher, als wir es je angestrebt hatten. Und je länger wir zuhörten, je genauer wir sie betrachteten, desto mehr verflog alle Ähnlichkeit mit Ruth.
Es war ein Gefühl, das von Minute zu Minute spürbar wuchs, und ich war mir sicher, dass Ruth, die sich auf der anderen Seite des Raums in ein Bild vertieft hatte, es ebenso wahrnahm wie wir anderen. Das war vermutlich der Grund, weshalb wir uns so lange in dieser Galerie aufhielten: Wir schoben den Moment vor uns her, in dem wir uns beraten mussten.
Auf einmal war die Frau verschwunden, aber wir standen immer noch herum und vermieden es, einander in die Augen zu schauen. Keiner von uns war auf die Idee gekommen, der Frau zu folgen, und während die Sekunden verrannen, war es, als verständigten wir uns wortlos auf eine neue Einschätzung der Lage.
Schließlich trat die silberhaarige Dame hinter ihrem Schreibtisch hervor und sagte zu Tommy, der ihr am nächsten stand: „Das ist ein ganz besonders schönes Werk. Eines meiner Lieblingsbilder.“
Tommy drehte sich zu ihr um und fing an zu lachen. Und während ich hastig zu ihm trat, um ihm beizuspringen, fragte die Dame: „Seid ihr Kunststudenten?“
„Eigentlich nicht“, sagte ich, bevor Tommy etwas erwidern konnte. „Wir sind einfach nur, na ja – kunstbegeistert.“
Die silberhaarige Dame strahlte übers ganze Gesicht und teilte uns stolz mit, der Künstler, dessen Arbeiten sie hier ausstelle, sei mit ihr verwandt. Sie erzählte uns alles über seine bisherige Laufbahn. Wenigstens weckte uns das aus dem tranceähnlichen Zustand, in dem wir versunken gewesen waren, und wir scharten uns um sie und lauschten, wie wir es in Hailsham getan hatten, wenn ein Aufseher eine Rede hielt. Das brachte die silberhaarige Dame erst recht in Fahrt, und wir kommentierten ihre Ausführungen mit eifrigem Nicken und kleinen Ausrufen, während sie berichtete, wo die Bilder entstanden waren, welche Tageszeiten der Künstler bevorzuge und dass er manchmal ohne Vorentwürfe arbeite. Dann gelangte ihr Vortrag an sein natürliches Ende, und wir seufzten einmütig, dankten ihr und verließen die Galerie. Da die Straße so schmal war, konnten wir noch immer nicht richtig miteinander reden, wofür wir, glaube ich, alle recht dankbar waren. Während wir uns von der Galerie entfernten, sah ich Rodney, der an der Spitze ging, theatralisch die Arme ausbreiten, als wäre er so begeistert wie bei unserer Ankunft in der Stadt, aber es sah nicht mehr überzeugend aus, und als wir endlich auf eine breitere Straße kamen, blieben wir einer nach dem anderen stehen.
Jetzt waren wir wieder recht nah an der Steilküste. Wie schon zuvor einmal konnten wir, wenn wir uns über das Geländer beugten, den Fußweg sehen, der sich im Zickzack zum Strand hinab wand, aber hier reihten sich unten an der Promenade brettervernagelte Buden aneinander. Eine Weile standen wir nur da, schauten aufs Meer hinaus und ließen uns vom Wind zerzausen. Rodney war immer noch um Munterkeit bemüht, als wäre er fest entschlossen, sich den schönen Ausflug durch nichts verderben zu lassen. Er machte Chrissie auf etwas aufmerksam, das in weiter Ferne am Horizont war, aber sie wandte sich von ihm ab und sagte:
„Na gut, ich denke, wir sind uns einig, oder? Das ist nicht Ruth.“Sie lachte kurz auf und legte Ruth eine Hand auf die Schulter. „Schade. Wir finden es alle schade. Aber wir können es Rodney auch nicht verübeln. Es war ja wirklich keine abwegige Idee. Ihr müsst zugeben, durch diese Bürofenster hat sie tatsächlich ausgesehen …“Sie verstummte, dann berührte sie noch einmal Ruths Schulter.
Ruth sagte nichts, sondern zuckte nur kurz mit den Schultern, beinahe als wolle sie die Berührung abschütteln. Mit schmalen Augen starrte sie in die Ferne, eher in den Himmel als aufs Wasser. Ich spürte, wie bestürzt und verwirrt sie war, aber jemand, der sie weniger gut kannte, hätte sie vielleicht einfach nur nachdenklich gefunden.
„Tut mir Leid, Ruth“, sagte Rodney, und auch er gab ihr einen Klaps auf die Schulter. Aber mit einer lächelnden Miene, so als rechnete er ohnehin keine Sekunde damit, dass ihm irgendwer einen Vorwurf machen könnte. So entschuldigt sich jemand, der einem anderen einen Gefallen erweisen will, was aber leider misslingt. Ich weiß noch – in diesem Augenblick, da ich Chrissie und Rodney beobachtete, dachte ich: Ja, die beiden sind in Ordnung. Auf ihre Weise waren sie nett und versuchten Ruth aufzumuntern. Gleichzeitig aber, obwohl sie diejenigen waren, die das Gespräch führten und Tommy und ich kein Wort sagten, empfand ich einen dumpfen Groll gegen sie, sozusagen in Ruths Namen. »52. Fortsetzung folgt