Saarbruecker Zeitung

Gejagt von Wahnvorste­llungen und Islam-Angst

Am S-Bahnhof in Grafing bei München geht ein junger Mann mit einem Messer auf Passanten los. Nun steht der 28-Jährige wegen Mordes vor Gericht.

- VON LUISA HOFMEIER UND ALEKSANDRA BAKMAZ

MÜNCHEN (dpa) Die Antragssch­rift der Münchner Staatsanwa­ltschaft im Prozess gegen den Messerstec­her von Grafing liest sich wie ein Psycho-Thriller. Gejagt von Wahnvorste­llungen einer vom Islam überrannte­n Welt, die keine „Ungläubige­n“dulde, sticht ein damals 27-jähriger Deutscher am S-Bahnhof der oberbayeri­schen Gemeinde auf Passanten ein. Seiner Ansicht nach kann er sich nur durch ein Menschenop­fer retten.

Der heute 28-Jährige tötet im Mai vorigen Jahres einen 56 Jahre alten Mann und verletzt drei weitere Passanten zum Teil schwer. „Ungläubige­r, du musst jetzt sterben“und „Allahu-Akbar“(Allah ist groß) soll der Messerstec­her gerufen haben. Hinweise auf einen islamistis­chen Hintergrun­d, wie kurz nach der Tat vermutet, finden die Ermittler nicht.

Bei dem Verfahren wegen Mordes und versuchten Mordes in drei Fällen, das gestern vor dem Münchner Landgerich­t eröffnet wurde, geht es vor allem um eines: die Frage der Schuldfähi­gkeit. Die Staatsanwa­ltschaft geht von einer Psychose aus. Diese löste wohl bei dem Betroffene­n eine starke Angst aus, von Islamisten verfolgt zu werden. „Es tut mir alles schrecklic­h leid. Ich wünschte, das alles wäre nie passiert“, sagt der gebürtige Hesse.

Bereits zwei Tage vor seiner Bluttat am 10. Mai 2016 litt er unter Wahnvorste­llungen. Er habe geglaubt, einen Mord beobachtet zu haben, schildert er im Prozess. Der Hartz-IV-Empfänger informiert seine Familie, erzählt von dem vermeintli­chen Mord. Die Angehörige­n bringen ihn in ein Krankenhau­s in Gießen, doch er entlässt sich nach einer Nacht selbst. „Ich wünschte, ich wäre in der Klinik geblieben“, sagt er heute. Weil der junge Mann überzeugt davon ist, dass Deutschlan­d nicht mehr sicher sei, will er das Land verlassen – und steigt zunächst in einen Zug nach München. Als er dort ankommt, sieht er zwei Polizisten. Er habe sie für die „Islampoliz­ei“gehalten, erzählt er. Auf der Flucht vor den Beamten sei er in eine S-Bahn gestiegen. In Grafing bei München sei er ausgestieg­en, weil er geglaubt habe, dass der Zug voller Muslime sei.

Schon seit Jahren plagen den Mann psychische Krankheite­n. Er sei mal manisch, mal depressiv gewesen, berichtet er. Mehrmals habe er versucht, sich das Leben zu nehmen. Behandlung­en hätten nichts gebracht, die Medikament­e habe er selbst immer wieder abgesetzt. Im Nachhinein bereue er das sehr. Auch mit Drogen und Alkohol habe er Probleme gehabt.

Einen vorbeifahr­enden Güterzug deutet er an dem Morgen seiner Attacke als Zeichen von Allah, wie er während seiner stundenlan­gen Aussage vor Gericht ausführt: Durch ein Menschenop­fer könne er sich retten. Daraufhin sticht er erst auf einen Passanten vor dem S-Bahnhof ein, dann sucht er sich weitere Opfer. Einer der Bedrohten kann in ein Taxi springen und sich retten. „Glück gehabt“, sagt der Zeuge vor Gericht. Seitdem fahre er nicht mehr S-Bahn.

Religiös war der 28-Jährige eigenen Angaben zufolge nicht. „Ich bin sehr atheistisc­h aufgewachs­en.“Er habe sehr wenig über den Islam gewusst. Vor Gericht wirkt er angespannt und müde. Im Moment gehe es ihm aber gut, erklärt er.

Vier Verhandlun­gstage sind für den Prozess noch angesetzt. Neben weiteren Opfern soll auch ein medizinisc­her Gutachter gehört werden. Das Gericht muss entscheide­n, ob der 28-Jährige auf Dauer in einem psychiatri­schen Krankenhau­s untergebra­cht wird. Sollte er für schuldfähi­g erklärt werden, könnte es auch um eine Haftstrafe gehen.

„Ich bin sehr atheistisc­h

aufgewachs­en.“

Der 28-jährige Angeklagte

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FOTO: GEBERT/DPA Blumen liegen am 10. Mai 2016 nach der Messeratta­cke am Tatort auf den Stufen zur S-Bahn in Grafing bei München.

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