Paul Auster: Die Brooklyn Revue (34)
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Aber du hast ihn doch ins Gefängnis gebracht.“„Sicher, aber der Plan für das Ganze stammte ja von ihm. Wenn er das nicht ins Rollen gebracht hätte, wäre keiner von uns in den Bau gewandert. Das wirft er sich vor. Er hat in den Jahren viel nachgedacht, und er sagt, am Ende habe er die Vorstellung nicht mehr aushalten können, dass ich denken könnte, er sei deswegen immer noch sauer auf mich. Gordon ist kein Kind mehr. Er ist jetzt siebenundvierzig und seit den Chicagoer Zeiten sehr viel erwachsener geworden.“
„Wie viele Jahre hat er im Gefängnis gesessen?“
„Dreieinhalb. Dann ist er nach San Francisco und hat wieder zu malen angefangen. Leider ziemlich erfolglos.
Er hat sich mit Zeichenunterricht und anderen Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, und dann hat er sich in einen Mann verliebt, der in New York lebt. Deswegen ist er jetzt in der Stadt. Er ist aus San
Francisco weg und Anfang letzten Monats bei ihm eingezogen.“
„Und der Mann hat Geld, nehme ich an.“
„Einzelheiten sind mir nicht bekannt. Aber ich vermute, er verdient genug, dass es für sie beide reicht.“„Gordon, der Glückspilz.“„Na ja, geht so. Wenn man bedenkt, was er alles durchgemacht hat. Dazu kommt noch, dass er mich liebt. Er mag seinen Freund schon sehr, aber mich liebt er. Und ich liebe ihn auch.“
„Ich möchte mich ja nicht in dein Privatleben einmischen – aber was ist mit Rufus?“
„Rufus habe ich sehr gern, aber unsere Beziehung ist rein platonisch. Wir kennen uns seit vielen Jahren, haben aber noch nie eine Nacht miteinander verbracht.“„Und mit Gordon ist es anders.“„Ganz anders. Auch wenn er nicht mehr der Jüngste ist, ist er immer noch ein sehr schöner Mann. Ich kann dir nicht sagen, wie gern ich ihn habe. Wir sehen uns nicht oft, und du weißt ja, wie das mit heimlichen Affären ist. Immer muss man lügen, alles ist so kompliziert. Aber wenn wir uns dann mal sehen, ist der alte Funke noch da. Ich hatte gedacht, das alles hätte ich hinter mir, das sei vorbei, aber Gordon hat mich wieder verjüngt. Nackte Haut, Nathan.
Das ist das Einzige, wofür es sich zu leben lohnt.“
„Vielleicht nicht das Einzige, aber ich stimme dir zu.“
„Wenn dir noch was Besseres einfällt, sag mir Bescheid.“
„Wollten wir nicht eigentlich über Geschäfte reden?“
„Genau das tun wir ja. Gordon ist daran beteiligt. Wir machen das zusammen.“„Schon wieder?“„Der Plan ist phantastisch. So brillant, dass ich jedes Mal eine Gänsehaut kriege, wenn ich daran denke.“
„Warum habe ich nur das verrückte Gefühl, dass ich gleich wieder etwas von einem Betrug erfahren werde? Ist die Sache gesetzlich oder ungesetzlich?“
„Ungesetzlich, natürlich. Wo bleibt der Spaß, so ganz ohne Risiko?“
„Du bist unverbesserlich, Harry. Nach allem, was du erlebt hast, hätte ich geglaubt, dass du den Pfad der Tugend bis an dein Lebensende nicht mehr verlassen willst.“
„Ich hab’s ja versucht. Neun lange Jahre hab ich’s versucht, aber es hat keinen Sinn. Ich hab einen kleinen Teufel in mir drin, und wenn ich den nicht ab und zu rauslasse, damit er was anstellen kann, wird es mir einfach zu langweilig. Und ich langweile mich nun mal nicht gern. Ich bin leicht zu begeistern, und je gefährlicher ich lebe, desto glücklicher bin ich. Manche Leute spielen Karten. Andere klettern auf Berge oder springen aus Flugzeugen. Ich gehe gern auf Bauernfang. Ich möchte wissen, was ich mir alles erlauben kann. Schon als Kind habe ich davon geträumt, eine Enzyklopädie herauszubringen, in der nur falsche Informationen stehen. Falsche Daten für die historischen Ereignisse, falsche Ortsangaben für die Flüsse, Biographien von Leuten, die es nie gegeben hat. Was für einer muss man sein, um sich so was auszudenken? Ein Verrückter, schon möglich, aber was habe ich bei dieser Vorstellung immer gelacht! Als ich bei der Marine war, bin ich beinahe vors Kriegsgericht gekommen, weil ich ein paar nautische Karten falsch beschriftet hatte. Natürlich mit Absicht. Ich weiß nicht warum; das ist einfach so über mich gekommen, ich konnte nicht anders. Ich habe meinen befehlshabenden Offizier davon überzeugen können, dass es bloß ein Versehen war, aber das war es nicht. So bin ich nun mal, Nathan. Ich bin großzügig, ich bin freundlich, ich bin loyal, aber ich bin auch der geborene Scherzbold. Vor ein paar Monaten hat Tom mir von einer Theorie zur klassischen Literatur erzählt, die jemand sich ausgedacht hat. Das sei alles Schwindel, sagt er. Aischylos, Homer, Sophokles, Plato, alle miteinander. Alles Erfindungen von cleveren italienischen Renaissancedichtern. Hast du jemals schon so was Wunderbares gehört? Die großen Säulen der westlichen Zivilisation, und jeder Einzelne von ihnen eine Fälschung. Ha! Bei dem Jux hätte ich nur zu gerne mitgemacht.“
„Und worum geht es diesmal? Wieder um gefälschte Bilder?“
„Nein, ein gefälschtes Manuskript. Schließlich handle ich jetzt mit Büchern.“„Gordons Idee, nehme ich an.“„Nun, ja. Er ist ungeheuer klug, und er kennt meine Schwächen.“
„Bist du sicher, dass du mir davon erzählen willst? Woher willst du wissen, ob du mir trauen kannst?“
„Weil du ein Mann von Diskretion und Ehre bist.“„Wie kommst du darauf?“„Weil du Toms Onkel bist. Und der ist ebenfalls ein Mann von Diskretion und Ehre.“
„Und warum erzählst du Tom dann nichts davon?“
„Tom ist zu unschuldig. Er ist zu gut, er ist kein Geschäftsmann. Du kennst dich aus, Nathan, ich baue auf deine Erfahrung und verspreche mir ein paar kluge Ratschläge von dir.“
„Mein Rat wäre, die ganze Aktion abzublasen.“
„Das kann ich nicht machen. Die Sache ist jetzt schon so weit fortgeschritten, dass ich nicht mehr zurückkann. Und außerdem will ich das auch nicht.“
„Na schön. Aber wenn dir alles um die Ohren fliegt, sag nicht, dass ich dich nicht gewarnt habe.“
„Der scharlachrote Buchstabe. Den Titel kennst du ja wohl?“
„Ich hab das Buch im dritten Jahr auf der High School gelesen. Bei Miss O’Flaherty, vierte Stunde.“
„Da haben wir es wahrscheinlich alle gelesen, stimmt’s? Ein amerikanischer Klassiker. Eines der berühmtesten Bücher aller Zeiten.“
„Willst du mir sagen, du und Gordon, ihr wollt ein Manuskript von Der scharlachrote Buchstabe fälschen? Es gibt doch Hawthornes Original!“
„Das ist ja das Schöne. Hawthornes Manuskript ist verschollen. Bis auf das Titelblatt, das in einem Tresor der Morgan Library liegt.