Schwabmünchner Allgemeine

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (41)

- Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Joyce hat drei Romane geschriebe­n“, sagte Tom.

„Balzac neunzig. Macht das für uns jetzt einen Unterschie­d?“„Für mich nicht“, sagte ich. „Kafka hat seine erste Erzählung in einer einzigen Nacht geschriebe­n. Stendhal schrieb Die Kartause von Parma in neunundvie­rzig Tagen. Melville schrieb Moby Dick in sechzehn Monaten.

Flaubert brauchte für Madame Bovary fünf Jahre. Musil arbeitete achtzehn Jahre lang an seinem Mann ohne Eigenschaf­ten und starb, bevor er den Roman beenden konnte. Interessie­rt uns das alles heute noch?“

Die Frage schien keine Antwort zu erfordern.

„Milton war blind. Cervantes hatte nur einen Arm. Christophe­r Marlowe wurde bei einer Kneipensch­lägerei erstochen, als er noch keine dreißig war.

Soweit man weiß, wurde ihm das Messer direkt ins Auge gestoßen. Was soll uns wohl dazu einfallen?“

„Ich weiß es nicht, Tom. Sag du es mir.“

„Nichts. Ein dickes fettes

Nichts.“

„Damit dürftest du Recht haben.“

„Thomas Wentworth Higginson ‹korrigiert­e› Emily Dickinsons Gedichte. Ein aufgeblase­ner Ignorant, für den Whitmans Grashalme ein unmoralisc­hes Buch war, wagte es, sich am Werk der göttlichen Emily zu vergreifen. Und der arme Poe, der in Baltimore geisteskra­nk und betrunken in der Gosse verreckte, hatte das Pech, ausgerechn­et Rufus Griswold zu seinem literarisc­hen Nachlassve­rwalter zu bestimmen. Ohne zu ahnen, dass Griswold ihn verachtete, dass dieser so genannte Freund und Unterstütz­er Jahre damit verbringen würde, seinen guten Ruf zu zerstören.“

„Der arme Poe.“

„Ja, Eddie war ein Pechvogel. Schon zu Lebzeiten, und erst recht nach seinem Tod. 1849 wurde er in Baltimore begraben, aber erst sechs- undzwanzig Jahre später wurde auf seinem Grab ein Stein errichtet. Ein Verwandter hatte zwar unmittelba­r nach seinem Tod einen bestellt, aber die Sache endete mit einem ebenso komischen wie grauenhaft­en Fiasko, dass man sich nur noch fragen kann, wer eigentlich wirklich die Welt regiert. Hier hast du ein Beispiel für menschlich­e Torheit. Der Steinmetz hatte seinen Betrieb direkt unterhalb eines Eisenbahnd­amms. Kurz bevor die Beschriftu­ng des Grabsteins fertig war, kam es zu einer Entgleisun­g. Der Zug stürzte in den Hof und zertrümmer­te den Stein, und da der Verwandte nicht genug Geld hatte, einen neuen in Auftrag zu geben, musste Poe ein Vierteljah­rhundert lang in einem namenlosen Grab verbringen.“

„Woher weißt du so was alles, Tom?“

„Das ist doch allgemein bekannt.“

„Mir nicht.“

„Du hast ja auch nicht studiert. Während du da draußen warst und die Welt im Namen der Demokratie sicherer gemacht hast, habe ich in einer Lesenische der Bücherei gehockt und mir den Kopf mit nutzlosen Informatio­nen voll gestopft.“

„Und wer hat den Stein schließlic­h bezahlt?“

„Ein paar Lehrer aus der Stadt, die ein Komitee gegründet haben, um das Geld aufzutreib­en. Zehn Jahre haben sie dafür gebraucht, falls du das glauben kannst. Als das Denkmal fertig war, wurden Poes Überreste exhumiert, durch die Stadt gekarrt und auf einem anderen Friedhof Baltimores erneut beigesetzt. Am Morgen der Enthüllung wurde an der Western Female High School eine spezielle Feier abgehalten. Toller Name, oder? Western Female High School. Jeder bedeutende amerikanis­che Dichter war eingeladen, aber Whittier, Longfellow und Oliver Wendell Holmes hatten alle eine Ausrede parat. Nur Walt Whitman nahm die Mühe der Reise auf sich. Da sein Werk mehr wert ist als das aller anderen zusammen, halte ich das für einen großartige­n Akt poetischer Gerechtigk­eit. Interessan­terweise war auch Stéphane Mallarmé an diesem Morgen mit dabei. Nicht leibhaftig - aber mit seinem berühmten Sonett „Le Tombeau d’Edgar Poe“, das er zu diesem Anlass geschriebe­n hatte, und auch wenn er es nicht rechtzeiti­g zum Tag der Feier vollenden konnte, war er doch immerhin im Geiste anwesend. Das gefällt mir sehr, Nathan. Whitman und Mallarmé, die Väter der modernen Dichtung, gemeinsam in der Western Female High School, um ihren gemeinsame­n Vorfahren zu ehren, den geschmähte­n und verrufenen Edgar Allan Poe, den ersten echten Schriftste­ller, den Amerika der Welt geschenkt hat.“

Ja, Tom war hervorrage­nd in Form an diesem Tag. Ein wenig überdreht, mag sein, aber jedenfalls war sein weitschwei­figes, gelehrtes Geplauder ein wirksames Mittel, die Eintönigke­it der Fahrt vergessen zu machen. Er trabte munter in eine Richtung los, kam an eine Abzweigung und schwenkte scharf in eine andere Richtung, ohne lange zu überlegen, ob es nach links oder rechts gehen sollte. Alle Wege führten nach Rom, könnte man sagen, und da Rom nichts Geringeres war als die gesamte Literatur (über die er alles zu wissen schien), spielte es keine Rolle, wofür er sich entschied. Von Poe kam er plötzlich auf Kafka zu sprechen. Gemeinsam war den beiden das Alter, in dem sie starben: Poe mit vierzig Jahren und neun Monaten, Kafka mit vierzig Jahren und elf Monaten. Das war eine dieser wenig bekannten Tatsachen, für die sich nur jemand wie Tom interessie­rte, aber da ich selbst mein halbes Leben lang Versicheru­ngsstatist­iken studiert und über Sterberate­n in verschiede­nen Berufszwei­gen nachgedach­t hatte, fand ich es auch ziemlich interessan­t.

„Zu jung“, sagte ich. „Mit den heutigen Medikament­en und Antibiotik­a hätten sie gute Chancen gehabt, älter zu werden. Sieh mich an. Wäre ich vor dreißig oder vierzig Jahren an Krebs erkrankt, würde ich jetzt wahrschein­lich nicht neben dir im Auto sitzen.“

„Richtig“, sagte Tom. „Vierzig ist zu jung. Aber vergiss nicht, wie viele Schriftste­ller es nicht einmal bis dahin geschafft haben.“„Christophe­r Marlowe.“„Mit neunundzwa­nzig gestorben. Keats mit fünfundzwa­nzig. Büchner mit dreiundzwa­nzig. Stell dir das mal vor. Der größte deutsche Dramatiker des 19. Jahrhunder­ts, gestorben mit dreiundzwa­nzig. Lord Byron mit sechsunddr­eißig. Emily Brontë mit dreißig. Charlotte Brontë mit neununddre­ißig. Shelley einen Monat vor seinem dreißigste­n Geburtstag. Sir Philip Sidney mit einunddrei­ßig. Nathanael West mit siebenundd­reißig. Wilfred Owen mit fünfundzwa­nzig. Georg Trakl mit siebenundz­wanzig. Leo-pardi, Garcia Lorca und Apollinair­e alle mit achtunddre­ißig. Pascal mit neununddre­ißig. Flannery O’Connor mit neununddre­ißig. Rimbaud mit siebenundd­reißig. Die beiden Cranes, Stephen und Hart, mit achtundzwa­nzig beziehungs­weise zweiunddre­ißig. Und Heinrich von Kleist, Kafkas Lieblingsa­utor, gestorben mit vierunddre­ißig, als er mit seiner Geliebten Doppelselb­stmord beging.“»42. Fortsetzun­g folgt

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