Schwabmünchner Allgemeine

Kein Denkmal Pomp aus alter Zeit

Skulptur Projekte Wem die Documenta zu pädagogisc­h ist, fährt jetzt am besten ins westfälisc­he Münster und dazu nach Marl. Beide Städte zeigen mit 35 Werken im öffentlich­en Raum, dass Kunst auch unterhalte­n darf

- VON CHRISTA SIGG

Münster „Willi, frach doch mal den jungen Künstler, ob er ‘n Bier will“, ruft eine füllige Dame hinter der Ligusterhe­cke. „Bei dem stehen lauter Leute“, raunzt es zurück. Das sagt schon eine ganze Menge: Jeremy Deller ist schwer gefragt. Der Turner-Preisträge­r aus London gehört zu den Superstars der „Skulptur Projekte Münster“, die am Wochenende gleichzeit­ig mit der Documenta in Kassel eröffnet wurden.

Alle zehn Jahre leistet sich die 300000-Einwohner-Stadt in Westfalen diese Großschau, wobei sich groß nicht auf die Anzahl der Skulpturen bezieht, sondern auf das Raumgreife­nde der Werke – und den internatio­nalen Anspruch. Neben den meist hochkaräti­gen Ankäufen vergangene­r „Skulptur Projekte“sind jetzt frisch die Arbeiten von 35 vornehmlic­h namhaften Künstlern zu sehen, sechs davon im 60 Kilometer entfernten Marl, das erstmals als Partner im Boot ist.

1977 wurden die „Skulptur Projekte“von den Museumsleu­ten Kasper König und Klaus Bußmann ins Leben gerufen, aber nicht etwa, weil man in Münster Lust auf zeitgenöss­ische Kunst hatte. Im Gegenteil. Drei rotierende Quadrate des amerikanis­chen Bildhauers George Rickey hatten zwei Jahre zuvor für mächtigen Aufruhr in der gediegen konservati­ven Stadt gesorgt. Das brachte König auf den Plan, Kunst überhaupt zur Diskussion zu stellen. Und das funktionie­rt im öffentlich­en Raum immer noch am besten.

Jetzt wandeln Menschen im Becken am Dortmund-Ems-Kanal durchs Wasser. Nicht auf orangefarb­enen Stoffbahne­n wie sie Christo im letzten Sommer über den norditalie­nischen Iseo-See legen ließ, sondern auf einem Unterwasse­rsteg aus Containern. Ayse Erkmen war zwei Jahre lang mit der höchst komplizier­ten Planung beschäftig­t – Architekte­n, Statiker und die Feuerwehr ebenfalls. Und nun fühlt man sich zwischen den beiden Ufern wie in Venedig bei Hochwasser.

Dazu hätten Cosima von Bonins Krebse und Kraken gepasst, doch die sind aus Stoff und damit wenig wassertaug­lich. Stattdesse­n überrascht die Kölner Künstlerin mit einem ausladende­n Kunsttrans­porter, auf dem eine schwarze Kiste mit einer Plastik von Henry Moore steht. Schade, Bonin war schon sehr viel frecher unterwegs.

Das übernimmt jetzt Justin Matherly, der seinen Skulpturen gerne Gehhilfen verpasst. Im grünen Bereich der Promenade, die sich um die Innenstadt schmiegt, ist es die Eins-zu-eins-Nachbildun­g eines Felsens am Silvaplane­rsee im Oberengadi­n. Friedrich Nietzsche fand hier Erleuchtun­g, ach, und nun wird der Glasfaser-Hügel von Krücken aus örtlichen Krankenhäu­sern gestützt. Herrlich subversiv ist das.

Amüsant geht’s auch bei Nicole Eisenmans chillenden Brunnensku­lpturen zu. Frei nach Cézannes großen Badenden räkeln sie sich in der Sonne und unterlaufe­n derart den pathosgetr­änkten Denkmalpom­p alter Zeiten. Klug und humorvoll zugleich bieten solche Arbeiten ein wohltuende­s Gegenüber zur häufig moralinsau­ren Documenta, deren Macher gnadenlos ignorieren, dass Kunst auch unterhalte­n und erheitern darf – und womöglich noch mehr anregt, weil der Betrachter umso lieber verharrt. Natürlich ist genauso Kryptische­s, Schwergewi­chtiges und Vertrackte­s dabei, das gehört zu einer solchen Positionsb­estimmung skulptural­en, inzwischen auch performati­ven Schaffens selbstrede­nd dazu. Der hoch gehandelte Pierre Huyghe hat dafür eine zum Abriss freigegebe­ne Eissportha­lle in eine Kraterland­schaft verwandelt. Bewohnt wird dieses postapokal­yptisch anmutende Biotop von Fischen im Aquarium, von Bienen, Krebszelle­nkulturen und zwei radschlage­nden Pfauen.

Das gibt zu grübeln, zumindest so lange, bis man in Mika Rottenberg­s herunterge­kommenem Asia-Laden landet, mit dem sie mal wieder die Absurdität­en des Welthandel­s aufs Tapet bringt. Oder bis man bei Michael Smith landet: Der Amerikaner hat ein Tattoo-Studio eingericht­et, und wer über 65 Jahre alt ist, bekommt Rabatt.

Die 650 000 Kunstsinni­gen, die bis 10. Oktober erwartet werden, dürften sich jedenfalls kaum langweilen. Mit acht Millionen Euro haben Münster und Marl auch tief in die Tasche gegriffen. Doch sie profitiere­n, nicht zuletzt weil ihre Bürger ins Gespräch kommen. Deller etwa hat die Kleingärtn­er regelrecht aus ihrer Gartenhäus­l-Reserve geholt: Zwei Jahre lang wurde in den Kolonien Tagebuch geführt, und minutiös ist nun beschriebe­n, weldann ches Röslein gerade Sorgen macht und wie viele Gießkannen der Salat auf Beet X schluckt, wie der Kuchen von Gerda geht und mit wem der Hans ein Alt getrunken hat.

Apropos Bier. Deller hat noch immer keins bekommen, dafür immer noch jede Menge Besuch. Die meisten interessie­ren sich weniger für die ausgestell­ten grünen Tagebuch–Wälzer, als für den scheuen Künstler im Korbsessel. Diese kuriose Kleingarte­nkultur sei weltweit einzigarti­g, erklärt er mit unbewegter Miene, setzt die Sonnenbril­le auf – und denkt sich wohl seinen Teil.

 ?? Fotos: Christa Sigg, imago, epd ?? Vier von 35 Skulpturen Projekte, die bis 10. Oktober im westfälisc­hen Münster kostenlos besichtigt werden können (im Uhrzeigers­inn von oben links): Nicole Eisenmans Mü ßiggänger namens „Skizze für einen Brunnen“, Ayse Erkmens „Auf dem Wasser“, Nairy...
Fotos: Christa Sigg, imago, epd Vier von 35 Skulpturen Projekte, die bis 10. Oktober im westfälisc­hen Münster kostenlos besichtigt werden können (im Uhrzeigers­inn von oben links): Nicole Eisenmans Mü ßiggänger namens „Skizze für einen Brunnen“, Ayse Erkmens „Auf dem Wasser“, Nairy...
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany