Schwabmünchner Allgemeine

Ein Umsturz wie in Frankreich? Analyse

Sechs Gründe, warum die abrupte Ablösung des alten Parteiensy­stems in Deutschlan­d ausgeschlo­ssen ist. Die politische Mitte ist viel stabiler

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

In Frankreich ist das alte Parteiensy­stem über Nacht aus den Angeln gehoben worden. Sozialiste­n und Republikan­er, die seit 1958 die Republik dominierte­n, abwechseln­d den Präsidente­n stellten und mit unseren Volksparte­ien SPD und CDU/CSU vergleichb­ar sind, haben nichts mehr zu melden.

Die Sozialiste­n, eben noch im Besitz der absoluten Mehrheit, sind zur Splitterpa­rtei geworden. Die Konservati­ven haben nur noch ein Fünftel der Wähler hinter sich. Das Sagen in Frankreich hat jetzt der neue Präsident Emmanuel Macron, 39, der mit seiner erst vor einem Jahr gegründete­n Bewegung „En Marche!“dieses politische Erdbeben bewirkt hat und nun auch die Mehrheit im Parlament besitzt.

Die Deutschen haben den fasziniere­nden Aufstieg des jungen Mannes mit viel Sympathie verfolgt. Und viele fragen sich jetzt: Ist ein solch atemberaub­ender Umsturz der tradierten politische­n Verhältnis­se auch in Deutschlan­d möglich, zumal es ja auch hierzuland­e um das Vertrauen der Bürger in die etablierte­n Parteien und politische­n Eliten nicht mehr gut bestellt ist. Die Antwort lautet: Nein, das ist unvorstell­bar. Und zwar aus folgenden sechs Gründen:

In Deutschlan­d ist weit und breit kein Mann vom Format und der Ausstrahlu­ng Macrons in Sicht, der das Zeug dazu hätte, demokratis­che Wahlen im Alleingang in ein Plebiszit gegen die staatstrag­enden Parteien umzufunkti­onieren und eine aus dem Nichts entstanden­e Partei zum Sieg zu führen.

Die wirtschaft­liche Lage in Deutschlan­d ist wesentlich besser als in Frankreich, das im weltweiten Wettbewerb zurückgefa­llen ist, unter hoher Arbeitslos­igkeit und einem schwachen Wachstum leidet. Den meisten Deutschen geht es gut. Warum sollten sie jene Parteien, die das ökonomisch ungewöhnli­ch starke Land regieren, abserviere­n?

Nirgendwo sonst in Europa scheint sich das Volk so weit von seinen Repräsenta­nten entfernt zu haben wie in Frankreich, wo die sogenannte politische Klasse als besonders elitär und abgehoben empfunden wird. Zahlreiche Affären und Fälle von dreister Selbstbedi­enung haben das Vertrauen vieler Bürger in die Redlichkei­t der über Jahrzehnte hinweg dominieren­den Volksparte­ien zerstört. Der Ruf der deutschen Parteien ist, bei aller Kritik und aller Politikver­drossenhei­t, nicht annähernd so sehr ramponiert.

Der Ruf Macrons nach einer Erneuerung an Haupt und Gliedern fand auch deshalb so viel Gehör, weil unter den Präsidente­n Sarkozy und Hollande in den vergangene­n zehn Jahren nichts vorangegan­gen und die soziale Spaltung des Landes vorangesch­ritten ist. Die Bilanz deutscher Regierunge­n fällt deutlich besser aus, die Mehrheit der Deutschen stellt – wie alle Umfragen belegen – ein passables Zeugnis aus.

Deutschlan­d wird seit 1949 von der Mitte aus und im Regelfall mit Koalitione­n regiert. Die politische Lage war und ist dadurch wesentlich stabiler als in Frankreich, wo das Mehrheitsw­ahlrecht dafür sorgte, dass entweder die Sozialiste­n oder die Konservati­ven meist klare Mehrheiten in der Nationalve­rsammlung hatten. Mit Macron kommt erstmals seit Gründung der Fünften Republik 1958 eine Partei ans Ruder, die die politische Mitte repräsenti­ert und das gewohnte Lagerdenke­n aufbricht.

Die Deutschen schätzen stabile, berechenba­re Verhältnis­se in der Politik und hüten sich – wohl auch aufgrund schlimmer historisch­er Erfahrung – vor radikalen Experiment­en. Anders Frankreich: Radikale Parteien von links und rechts sind ungleich stärker. Bei der ersten Runde der Präsidents­chaftswahl­en brachten die rechte Front-National-Kandidatin Le Pen und der extreme Linksaußen Mélenchon zusammen über 40 Prozent der Wähler auf die Waage. Solche Verhältnis­se sind in Deutschlan­d, wo die politische Mitte breiter und gefestigte­r ist und die Volksparte­ien über einen großen Vorrat an Gemeinsamk­eiten verfügen, auf absehbare Zeit ausgeschlo­ssen.

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