Schwabmünchner Allgemeine

Warum ein Pinkelbeck­en große Kunst ist

Provokatio­n Der französisc­he Künstler Marcel Duchamp legte im Juni 1917 ein Urinal auf einen Sockel, gab ihm einen Namen – und signierte es. Dies gefiel seinen Kollegen ganz und gar nicht. Heute ist das Werk eine Ikone der Moderne

- VON RÜDIGER HEINZE

Es geschah mal wieder in München. Im großbürger­lich-konservati­ven München, wo der Kitsch blühte – und als solcher möglicherw­eise erstmals mit dieser Begriffsne­uschöpfung bedacht wurde. Wo ein paar Jahre später die abstrakte Malerei ihren Durchbruch hatte und Wassily Kandinsky die wegweisend­e Künstlergr­uppe „Der Blaue Reiter“gründete und „Über das „Geistige in der Kunst“nachdachte und schrieb.

Das war Ende 1911. Ein halbes Jahr später reiste ein junger angehender französisc­her Künstler nach München. Einerseits studierte er in der Alten Pinakothek begeistert die Cranachs, anderersei­ts war er so wach und empfänglic­h für alles Neue, dass er nach drei Monaten an der Isar, wo er übrigens „Über das Geistige in der Kunst“erwarb, erklärte: „Mein Aufenthalt in München war der Ort meiner völligen Befreiung.“Ein Jahr später sollte dieser Marcel Duchamp – zunächst eher unbemerkt – die Kunst revolution­ieren.

Er steckte sein erstes sogenannte­s „Readymade“zusammen, ein Fahrrad-Rad mit Gabel auf einem Hocker. Fertig war die neue Kunst. Aber wie gesagt: Das blieb erst mal eher unbemerkt. Es brachte aber den 1887 bei Rouen geborenen Duchamp auf den folgenschw­eren Gedanken, dass der Geschmack der größte Feind der Kunst sei. Noch zwei Readymades fertigte Duchamp: den berühmten Flaschen- trockner und eine Schneescha­ufel, die unter dem Titel „In Erwartung des gebrochene­n Arms“wohl in Verbindung damit steht, dass Duchamp bewusst aufgehört hatte zu malen. Ja, er wollte das Malen gezielt verlernen, die Hand vergessen. Dann kam der Juni 1917. Ein Urknall in der Kunstgesch­ichte, nachwirken­d bis heute, Juni 2017.

Damals lebte Duchamp als Dadaist in New York, damals war er schon deshalb kein unbeschrie­benes Blatt mehr in der Metropole, weil man sich dort bereits 1913 über sein kubistisch­es Gemälde „Nu descendant un escalier No. 2“erregt hatte, noch ein folgenschw­eres Werk bis hin zu Gerhard Richters weiblichen Akt „Ema“(1966), die ebenfalls eine Treppe herabsteig­t. Aber die Erregung von 1913 – verkauft seinerzeit für 342 Dollar – sollte mit Leichtigke­it übertrumpf­t werden.

Duchamp nämlich wählte aus dem Sortiment der stadtansäs­sigen Eisenwaren-, Kücheneinr­ichtungsun­d Sanitärfir­ma „J. L. Mott Iron Works“das handelsübl­iche Modell „Bedfordshi­re“als sein neues Readymade aus. Und das war ein Pin- für Männer, ein Urinal. Mehr oder weniger elegant geschwunge­n, aber halt auch anrüchig.

Aber so einfach wird gerade ein Urinal nicht zum Kunstwerk. Es braucht gewisser Begleitums­tände. Dafür sorgte Duchamp: Er war Mitglied der New Yorker Society of Independen­t Artists und reichte dort das Urinal unter Pseudonym für die jährliche Ausstellun­g dieser Gesellscha­ft ein, wohlwissen­d, dass satzungsge­mäß keine Jury sein Werk wird ablehnen können. Duchamp hängte sein Urinal nicht, sondern legte es. Auf einen Sockel – so, wie bislang noch jeder Bildhauer seine Kleinplast­ik drapiert hatte. Duchamp gab dem Urinal auch einen Namen: „Fountain“, Quelle, Brunnen. Und vor allem: Er signierte es. Mit: R(ichard) Mutt. Quasi so, wie mancher alte Meister aus dem goldenen Zeitalter der Malerei die Werkstatt-Gemäldekop­ie seines Gesellen signierte und als eigenhändi­ges Werk autorisier­te.

Womit Duchamp aber nicht gerechnet hatte: Entgegen der Satzung wurde er von seinen Künstlerko­llegen doch ausjuriert. Sie mochten kein Urinal unter ihre Arbeiten gemischt sehen – und sei es noch so leserlich signiert. Diese Provokatio­n hätte in ihren Augen die eigenen Werke diskrediti­ert. Und so wurde „Fountain“erst einmal hinter einer Stellwand versteckt, dann in eine Galerieaus­stellung überführt – und schließlic­h ähnlich unangemess­en behandelt wie die Badewanne von Beuys 1973. Die Badewanne wurde allzu gründlich „gereinigt“, Duchamps „Fountain“aber höchstwahr­scheinlich entsorgt.

Heute ist das Original jedenfalls verscholle­n. Doch gibt es aus späteren Jahren, als Duchamps Tat als Kunst-Coup erkannt worden war, etliche Repliken – zuletzt zwölf Exemplare von 1964, vier Jahre vor Duchamps Tod. Sie befinden sich in Museumshan­d, wobei ein Urinal einmal seiner eigentlich­en Bestimmung gemäß verwendet, ein anderes mutwillig zerschlage­n wurde.

Soll in einem Satz zusammenge­fasst werden, was das Grundstürz­ende an Marcel Duchamps „Fountain“ist, so muss festgehalt­en werden: Ausgehend von der Überlegung, welche Umstände ein Artefakt zum Kunstwerk erheben, erklärt Duchamp – abseits vom mykelbecke­n thisch aufgeladen­en genialen Schöpfertu­m – ein frei gewähltes (Massen-)Objekt durch Präsentati­on, Namensgebu­ng, Signatur zu Kunst. Die Neudeklara­tion von künstleris­chem Anspruch führt nach Neubetrach­tung zu Neubewertu­ng.

Unter den vielen Erweiterun­gen, die der Kunstbegri­ff erfuhr, sind Marcel Duchamps Readymades die radikalste­n.

Einmal wurde ein Urinal gemäß seiner eigentlich­en Bestimmung verwendet

 ?? Fotos: dpa ?? Eine Replik aus dem Jahr 1964 von Marcel Duchamps „Fountain“, ursprüngli­ch präsentier­t 1917 in New York.
Fotos: dpa Eine Replik aus dem Jahr 1964 von Marcel Duchamps „Fountain“, ursprüngli­ch präsentier­t 1917 in New York.
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Der späte Marcel Duchamp und sein ers tes Readymade „Roue de Bicyclette“.

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