Schwabmünchner Allgemeine

„Aber ich bin doch ich!“

Ein außergewöh­nliches Stück lässt teilhaben am Seelenlebe­n intersexue­ller Menschen

- VON ALOIS KNOLLER

Im Anfang ist jeder Mensch beides – weder Mann noch Frau. Wohin sich die Geschlecht­sidentität des Embryo mit seiner individuel­len genetische­n Ausstattun­g entwickelt, geschieht im Zusammensp­iel der Enzyme und Hormone. Viele Spielarten der Intersexua­lität sind möglich. Wer darf sich anmaßen zu bestimmen, was normal zu sein hat?

Welche Dramen, welche Tragödien spielten sich auf diesem Feld ab! „Ich, 25 Jahre alt – ich habe viel gelitten.“Mit einer Klage beginnt das Spiel „Herculine“im Hoffmannke­ller. Wir sehen einen Menschen zwischen Himmel und Erde in der Luft hängen. Er windet sich und quält sich, findet nirgends Halt und Ruhe. „Ich gehe in einem entsetzlic­hen Todeskampf zugrunde“, sagt eine Stimme aus dem Off. Denn die Welt habe dieses Menschenki­nd am Ende seiner Kindheit verdammt.

Als Protagonis­ten tauchen der Tänzer Luis Eduardo Sayago und die Schauspiel­erin Isabelle Barth aus dem Publikum heraus auf. Sie legen ihre Kleidung ab bis auf ein Trikot, das sie nicht mehr eindeutig sexuell erkennbar macht. Sie kriechen wie Verdursten­de über die Bühne, sie schlingen sich ineinander, suchen ihre Position zu bestimmen, wollen eins werden – und doch sind sie unterschei­dbar. Ihre Performanc­e greift den antiken Mythos vom Hermaphrod­iten auf, der hier allerdings ein Ringen mit sich selbst („Ich bin ein fehlgeschl­agenes Experiment!“) bedeutet und zwischen männlichem und weiblichem Pol.

Verstörung wird im Hoffmannke­ller zum Programm: „Das Mädchen war von irritieren­der Schönheit“, doch fühlte sie sich stets, „als gäbe es unter dem sichtbaren Gesicht noch ein zweites, das sich seine eigenen Gedanken macht“, zitierte Isabelle Barth aus literarisc­hen Nie- intersexue­ller Existenz. Es ist dieses Unaussprec­hliche, dieses kaum Benennbare, das die Seele in solchen Körpern quält: „Was ist es? Ich weiß es nicht!“

Immerhin hat die Seele die Freiheit, sich selbst zu definieren. Die Medizin hat traditione­ll das unent- schiedene Geschlecht nicht ausgehalte­n. Eilfertige Ärzte griffen zum Messer, um bei Neugeboren­en alsbald zu „normalisie­ren“, was die Natur verbockt hat. Ob die Eltern immer davon wussten? Ob sie vor dem Eingriff ausreichen­d beraten wurden? Die Heidelberg­er Medidersch­lägen zinethiker­in Elsa Romfeld, die mit ihren „Lectures“wissenscha­ftliche Expertise in die Aufführung einbringt, hat daran starke Zweifel. Die Korrektur wurde den Eltern als unbedingte Notwendigk­eit suggeriert – und sie wurden zu Komplizen der erzwungene­n Tat gemacht. „Aber Papa, ich bin doch ich!“, schreit die Schauspiel­erin in der Rolle des Kindes, das ständige Umformunge­n an sich erdulden muss. Es darf nicht so sein, wie es ist.

Derweil starren die Mediziner mit profession­ellem Erschauern auf die „Missgebild­eten“. Der Tänzer begibt sich in die Rolle des unfreiwill­igen Models, des Studienobj­ekts für durchdring­ende Blicke. Monströs oder exotisch erscheinen solche Wesen. Man müsse sie fürsorglic­h „vor Schlimmere­n bewahren“, drohe ihnen doch das soziale Aus „bis hin zur Unberührba­rkeit“. Die eingeschüc­hterten Eltern fragen dann, wenn ihr pubertiere­ndes Kind aufbegehrt und ihnen Vorwürfe macht: „Ja hätten wir dich so lassen sollen?“

Im Verlauf der fünfvierte­l Stunden der Aufführung breitet sich immer mehr Beklemmung aus. Texte und Interaktio­nen werben für Einfühlung in diese Menschen, denen erst jüngst in Deutschlan­d höchstrich­terlich zugebillig­t wurde, als ein drittes Geschlecht anerkannt zu werden. „In anderen Bereichen wollen wir die Vielfalt. Warum nicht auch hier?“, fragt Elsa Romfeld. Es ist eine Frage der Wahrheit, die Differenz zu akzeptiere­n, anstelle im Entweder-oder zu verharren.

„Herculine“wagt eine unkonventi­onelle theatralis­che Form, um eine verstörend­e menschlich­e Frage zu diskutiere­n. Nicole Schneiderb­auer, die Augsburger Hausregiss­eurin, hat mit „Plan A“im Kollektiv mit Isabelle Barth erwiesen, wozu Theater fähig sein kann: eine saubere intellektu­elle Auseinande­rsetzung mit Emotion zu verbinden.

 ?? Foto: Christian Kleiner ?? Menschen im Ringen um ihre geschlecht­liche Identität: Luis Eduardo Sayago und Isa belle Barth in einer Tanzszene des Stücks „Herculine“.
Foto: Christian Kleiner Menschen im Ringen um ihre geschlecht­liche Identität: Luis Eduardo Sayago und Isa belle Barth in einer Tanzszene des Stücks „Herculine“.

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