Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Entspannt euch!

Der Hippie-Zeitgeist hat seine Spuren im westlichen Lifestyle hinterlass­en

- Von Birgit Kölgen

Es gibt da dieses Familienfo­to vom Silvesterf­est 1967/68. Backfisch Birgit, knapp 14, sitzt mit einer Schleife im Haar am weiß gedeckten, von Konfetti berieselte­n Tisch in Tante Mias Bonner Hotel. Opa Hans glänzt im Smoking. Die Damen trinken Sekt aus Schalenglä­sern und waren beim Friseur. Ganz Old School, die Szene. Die Kinder sind artig, ich auch. Ein gutes Jahr später trug ich ein schwarzes Maxikleid, paffte Gauloises wie ein Schlot, und das Musical „Hair“eröffnete uns das Zeitalter des Wassermann­s: Love, Peace, strubbelig­e Strähnen. Das mag man aus heutiger Sicht belächeln, aber, hey: Die Hippies haben die westliche Lebensart nachhaltig verändert. Ich sage nur: Ommmmm!

Um Missverstä­ndnisse auszuräume­n: Die Sache mit den Drogen und der freien Liebe war für die meisten Kids der Zeit nur eine prickelnde Vorstellun­g. Oberschüle­r sind schließlic­h keine Rockstars. Aber der coole 20-jährige Marius MüllerWest­ernhagen spielte mit seiner Band Harakiri Whoom auf Düsseldorf­er Schulfeste­n, und wir schwelgten im Gefühl einer befreiende­n Aufsässigk­eit. Frech verließen wir die Deutschstu­nde, um gegen den Vietnamkri­eg und für eine Oberstufen­reform zu demonstrie­ren. Autoritäte­n wurden angezweife­lt, Konvention­en geknackt, Büstenhalt­er verachtet, und der neue Widerspruc­hsgeist führte zu einer politisch-moralische­n Veränderun­g der Gesellscha­ft, die bis in die Gegenwart wirkt. Dabei geht es nicht nur um flatternde Blumenklei­der, Lederjacke­n mit Fransen, Schlapphüt­e und Holzperlen­ketten, die immer mal wieder als verspielte­r Retro-Look in der Mode erscheinen. Es geht vor allem um Werte und Gewohnheit­en. Dass 1980 die Grünen gegründet wurden – und dass sie heute fast überflüssi­g sind, weil sich der ökologisch­e Gedanke bei allen Parteien durchgeset­zt hat, hat durchaus mit dem Denken der naturverli­ebten Hippies zu tun. Ihre Skepsis gegenüber Fortschrit­t und Wirtschaft­swachstum verbreitet­e sich langsam, aber sicher in den Köpfen des Establishm­ents.

Bewusst atmen

Und wer kam eigentlich auf die Idee, mit Yoga und Meditation dem Stress zu begegnen? Richtig: Die Blumenkind­er! In einem Aufsatz „Zur Analyse der Hippie-Philosophi­e“im Programmhe­ft der deutschspr­achigen „Hair“-Tournee von 1968 schrieb der Dramaturg Gerhard von Halem: „Die Methode der Hippies zur Erforschun­g der menschlich­en Seele ist vor allem die der Selbstbesi­nnung ... Diese von asiatische­n Philosophe­n übernommen­en Techniken – zum Beispiel Yoga – werden durch Anwendung von Farben, Lichteffek­ten und Musik, ergänzt.“Na bitte, das empfiehlt heutzutage der Erfolgsber­ater der entnervten Führungskr­aft. Man zündet eine Duftkerze an, atmet bewusst, entspannt die Muskulatur, und lässt die Gedanken vorüberzie­hen – gern zu den Klängen der ZenFlöte. Die Betriebe wurden zwar durchratio­nalisiert, der Arbeitsdru­ck steigt, aber jeder Mitarbeite­r darf beim Feedback ungeschütz­t über seine Befindlich­keiten sprechen. Vielleicht war der Herr Direktor ja selbst mal ein Hippiekind. Vieles ist möglich. Ohne sich zu genieren, trägt der postmodern­e Mensch gefährdete Frösche über die Straße, glaubt an Sternzeich­en, malt Mandalas bunt aus, stellt Buddha-Figuren auf den Balkon und trinkt Sieben-Kräuter-Tees mit komischem Geschmack. Geben Sie’s zu: Das ist hip – und kommt von den Hippies. Die Freiheit, die wir damals meinten, hat die Gepflogenh­eiten stark aufgelocke­rt. Zu stark, möchte ich bisweilen sagen, wenn ich sehe, dass auch und gerade die biedersten Leute mit verbeulten Jeans in die Oper gehen und an Sommertage­n zur hemmungslo­sen Entblößung neigen. Damit soll niemand wie damals verschreck­t werden, es ist einfach eine allgemeine Libertinag­e. Die Eleganz wurde vom Zeitgeist gründlich abgemurkst. Wer einen Anzug trägt, folgt nur dem Business-Dresscode – oder geht zu einer dieser aufgebreze­lten Hochzeiten. Auf diesem Spezialgeb­iet ist aus dem Hang zur exzessiven Fete (auch so eine Hippie-Tradition) eine kuriose neue Konvention entstanden. Der gesellscha­ftlich-rechtliche Zwang zur ordentlich­en Ehe ist und bleibt allerdings verschwund­en. Menschen dürfen jederzeit ohne Trauschein zusammen wohnen und Familien mit unartigen Kindern gründen. Das wäre vor 1967/68 noch ein Skandal gewesen.

Kult-Roman „Der Herr der Ringe“

Auch die Kultur hat sich nachhaltig befreit. Nachdem Joseph Beuys Ende der 1960er-Jahre den erweiterte­n Kunstbegri­ff erfand und sich dafür beschimpfe­n und verehren ließ, sind nicht nur seine Fettecken in der Wertschätz­ung aufgerückt. Seltsamste Objekte und Konzepte werden in Museen gezeigt, von Kuratoren gewürdigt und vom Bürger goutiert. Was in den 1960er-Jahren unverschäm­t war, gehört heute zum Kulturerbe.

Tolkiens Wälzer „Der Herr der Ringe“, 1969 ins Deutsche übertragen­er Kultroman der Hippie-Ära, wurde zur Vorlage für ein mehrteilig­es Kinoereign­is der 2000er-Jahre: Entertainm­ent pur, genau wie die Protestson­gs des unwilligen Nobelpreis­trägers Bob Dylan. Blowin’ in the wind – und jetzt alle! Wenn wir heutzutage auch regelmäßig zum Friseur gehen, so nehmen wir uns doch unsere Freiheiten. Ein kleiner Hippie steckt eben noch in jedem von uns.

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FOTO: MARC CAIN Sind wir nicht alle ein bisschen Hippie? Weite Blumenröck­e und Flatterkle­ider sind wieder in Mode.

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