Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Nobelpreisträger im Höhenflug
Helmholtz-Gemeinschaft nutzt Zeppelin für Forschungszwecke – Probefahrt während der Lindauer Tagung
LINDAU - Hektisch macht Dan Shechtman ein Selfie, tippt ein paar Worte auf Hebräisch dazu und schickt die WhatsApp-Nachricht an seine Familie. „Damit sie wissen, dass alles in Ordnung ist“, erklärt er ein wenig verlegen. Der Isreali, der vor sechs Jahren mit dem ChemieNobelpreis ausgezeichnet wurde, ist nervös. In wenigen Minuten wird der 76-Jährige zum ersten Mal in einem Zeppelin mitfahren. Mit im Luftschiff sitzen der Chemienobelpreisträger Peter Agre und eine handvoll Nachwuchswissenschaftler. Sie alle nehmen an der Nobelpreisträgertagung in Lindau teil. Die HelmholtzGemeinschaft hat sie zu dieser Zeppelinfahrt eingeladen, bei der es um mehr geht als um einen Schnappschuss in dem besonderen Gefährt. Es geht um die Wissenschaft. Dan Shechtman verschickt vor dem Abflug noch eine WhatsApp.
Langsam und wackelig setzt sich der Zeppelin in Bewegung. Einige Sekunden später ist die Flughöhe erreicht, die Passagiere dürfen ihre Gurte lösen und sich frei im Zeppelin bewegen. Sofort drängen sich alle an die Fenster, die teilweise sogar offen sind. Jeder will eine Luftaufnahme vom Bodensee ergattern – auch die beiden Nobelpreisträger im Rentneralter.
Nur Burkard Baschek, Küstenforscher und Ozeanograf am Helmholtz-Zentrum Geesthacht, sitzt ruhig auf seinem Stuhl. Wie vom Bodensee gebannt, starrt er aus dem Fenster. „Dort kann man ganz genau sehen, wie der Rhein in den Bodensee fließt“, erklärt er wenig später Enrico Pizzutilo, der sich zu ihm gestellt hat. Baschek zeigt dem jungen Italiener, der am Max-Planck-Institut in Düsseldorf Brennstoffzellen erforscht, wo sich der Fluss in einem helleren Blau vom stehenden Bodensee abzeichnet. „Und sehen Sie die Wellen dort hinten?“, fragt Baschek in die Runde. „Manche von ihnen kommen von den Booten, andere entstehen natürlich.“
Wasser und dessen Bewegungen sind Bascheks Element. Nur beobachtet er normalerweise nicht Wellen im Bodensee, sondern kleine Wasserwirbel in der Ostsee. Wobei klein in diesem Zusammenhang relativ ist. „Die Wirbel sind zwischen hundert Metern und zehn Kilometern groß“, erzählt Baschek den Nobelpreisträgern und jungen Wissenschaftlern, die inzwischen wieder Platz genommen haben und mehr über die Meeresforschung der Helmholtz-Gesellschaft erfahren möchten. Baschek erklärt, dass es im Meer Lindau von oben: Der Zeppelin eröffnet neue Perspektiven. neben den „kleinen“Wasserwirbeln auch große gibt. „Sie alle sind miteinander verzahnt, funktionieren wie ein Uhrwerk.“Die Helmholtz-Expedition in der Ostsee heißt konsequenterweise „Uhrwerk Ozean“.
Wirbel haben globale Bedeutung
Baschek ist überzeugt: Es ist wichtig, dieses Uhrwerk zu verstehen. „Die kleinen Wirbel beeinflussen das Wachstum von Mikroalgen und damit den Anfang der Nahrungskette der Meere.“Die Mikroalgen wiederum produzierten etwa die Hälfte des weltweiten Luftsauerstoffs. „Viele Meereswirbel in Summe haben also eine globale Bedeutung“, sagt Baschek. Sie könnten sich unter anderem aufs Klima auswirken. Für das menschliche Auge sind die kleinen Wirbel im Meer unsichtbar. Und da kommt der Zeppelin ins Spiel: Mit Spezialkameras ausgerüstet, spürt das Luftschiff sie auf – und kann dann bis zu zehn Stunden lang direkt über ihnen „parken“. Die Forscher messen zum Beispiel, wie Mik-roalgen auf die Wirbel reagieren. Viel Zeit hat das Expeditionsteam dafür nicht zur Verfügung: Laut Baschek verschwinden die meisten kleinen Wirbel wieder nach sechs bis zwölf Stunden. Der Zeppelin hat für die Forscher aber noch mehr Vorteile: Weil er ohne Rotoren auskommt, beeinträchtigt er das Messergebnis nicht. Wegen seiner Größe nutzt Baschek ihn als Schaltzentrale für die Messungen auf dem Meer. Vom Zeppelin aus koordiniert er Forschungsschiffe und Flugzeuge.
Während Baschek erzählt, steuert der Zeppelin wieder den Flugplatz in Friedrichshafen an. „Ich finde diese Forschung total beeindruckend“, sagt Enrico Pizzutilo. Kurz vor dem Abflug habe er noch im Internet recherchiert, wie ein Zeppelin funktioniert. „Dass man ihn wissenschaftlich einsetzen kann, konnte ich mir nicht vorstellen.“Als alle aussteigen, knipst Dan Shechtman noch ein schnelles Selfie vor dem riesigen Luftschiff. „Damit zu Hause auch alle wissen, dass alles gut gegangen ist.“