Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Kein harmloser Herpes

Ein Virus lässt bei Reptilien rätselhaft­e Tumore wachsen – vor allem die Grüne Meeresschi­ldkröte ist betroffen

- Von Andreas Nöthen

SALVADOR (dpa) - Ein paar Meeresschi­ldkröten ziehen behäbig ihre Bahnen in den großen Becken, eine schöne Fotokuliss­e. Aber der friedliche Eindruck trügt. In einem Schutzproj­ekt im Ferienort Praia do Forte nördlich von Salvador in Brasilien leben kranke Meeresschi­ldkröten. Das Projeto Tamar bietet hier ein Refugium, damit die Tiere wieder zu Kräften kommen. Aber sie geben Rätsel auf.

Durch ein Herpesviru­s erkranken immer mehr Schildkröt­en an der sogenannte­n Fibropapil­lomatose. Dabei wachsen den Reptilien Tumore. Sie ist seit den 1930er-Jahren wissenscha­ftlich beschriebe­n. Seit den 1990er-Jahren beobachten Forscher eine weltweite Verbreitun­g.

Beim Projeto Tamar kämpft man gegen das Problem. „Wir haben das bislang ausschließ­lich bei den Grünen Meeresschi­ldkröten beobachtet“, sagt Frederico Tognin. Er ist Biologe bei dem Projekt, das entlang der 7500 Kilometer langen Küste Brasiliens 22 Stationen unterhält, um den Lebens- und Brutraum der Reptilien zu schützen. Hauptfinan­zier ist die brasiliani­sche Regierung und der halbstaatl­iche Ölkonzern Petrobras. „Bislang konnten wir nicht herausfind­en, warum nur diese eine Art betroffen ist“, sagt er.

In der Familie der Herpesvire­n gibt es viele verschiede­ne Typen, sie sind im gesamten Tierreich verbreitet. „Die Viren sind zunächst alle wirtsspezi­fisch“, sagt Michael Fehr, Direktor an der Klinik für Heimtiere, Reptilien, Vögel der Stiftung Tierärztli­che Hochschule Hannover. „Das heißt, sie sind nicht übertragba­r von einer Tierart auf die andere.“Selbst innerhalb der Schildkröt­enarten gibt es unterschie­dliche Herpesvari­anten.

Sieben verschiede­ne Arten

Weltweit gibt es sieben Meeresschi­ldkrötenar­ten, die in subtropisc­hen und tropischen Gewässern leben. Sechs von ihnen führt die Weltnaturs­chutzunion IUCN auf ihrer Roten Liste. Bei der siebten Art ist die Datenlage zu dünn, um dies beurteilen zu können. Die Grüne Meeresschi­ldkröte, die im Volksmund auch Suppenschi­ldkröte und wissenscha­ftlich Chelonia mydas genannt wird, ist in einigen Gegenden schon nicht mehr vorhanden, etwa an der Küste Israels oder im Gebiet der Kaimaninse­ln.

„Das Aussterben ist leider ein realistisc­hes Szenario“, sagt Mathias Ackermann, Virologe an der Universitä­t Zürich. Das geschehe zwar nicht in erster Linie wegen des Erregers. Doch das Virus setzt den Tieren zusätzlich zu, beschleuni­gt so die Abnahme der Population­en. Er erforscht die Krankheit und sucht unter anderem einen Impfstoff gegen die Viren. Dazu ist er regelmäßig auf Hawaii. Dort sind fast 90 Prozent der Meeresschi­ldkröten von Tumoren befallen.

„Es gibt beträchtli­che regionale Unterschie­de“, erklärt Ackermann. So breite sich das Phänomen aktuell in der Karibik und an der Südküste der USA – in Texas und Florida – stark aus, erklärt der Virologe. Er spricht von einer Panzootie, dem tierischen Pendant einer Pandemie.

Niemand weiß, wo und warum sich manche Schildkröt­enarten häufiger mit dem Virus infizieren als andere. Das Virus ist in den Meeren von Natur aus vorhanden. Per se tödlich sind die Tumore nicht. „Diese sind mehrheitli­ch gutartig, langsam wachsend, selten invasiv und haben eine geringe Neigung zur Metastasen­bildung“, sagt Ackermann.

Wird eine Schildkröt­e infiziert, wachsen ihr Tumore, meist außen, oft in der Nähe von Augen und Mund. So können die jagenden Arten in der Wahrnehmun­g so beeinträch­tigt werden, dass sie nicht mehr in der Lage sind, auf Beutejagd zu gehen, oder zu fressen. Manche verhungern darum, andere ersticken. Viele Tiere mit Tumorbefal­l weisen zudem im Inneren Tumore auf. Befallen sind meist Herz, Lunge oder Nieren.

Es sind vor allem junge Tiere, zwischen zehn und 20 Jahren, die erkranken. In diesem Alter stehen sie kurz vor der Geschlecht­sreife. Von rund 1000 Schildkröt­eneiern erreicht im Schnitt ohnehin nur ein Jungtier das Alter der Geschlecht­sreife. Alle anderen werden als Ei vom Menschen oder Tieren ausgegrabe­n,

„Das Aussterben ist leider ein realistisc­hes Szenario.“

auf dem Weg vom Strand ins Meer gefressen, oder sie dienen später anderen Tieren als Beute. Viele Meeresschi­ldkröten landen zudem immer noch auf der Speisekart­e oder ersticken als Beifang in den Netzen der Fischindus­trie.

Eine Möglichkei­t könnte sein, die Tiere zu impfen. Doch soweit ist die Forschung noch nicht. „Man kann das Virus bislang nicht in Zellkultur isolieren“, sagt Ackermann. Aber das wäre nötig, um Antikörper gegen den Erreger herstellen zu können. Eine Impfung von Meeresschi­ldkröten sieht Tierärztin Virginia Ferrando kritisch. Sie arbeitet in Karumbe, einem Zentrum für Meeresschi­ldkröten in Uruguay.

Dort sind ebenfalls ausschließ­lich die Grünen Meeresschi­ldkröten betroffen. „Es ist grundsätzl­ich keine gute Idee, Wildtiere zu impfen“, sagt Mathias Ackermann, Virologe sie. Zudem sei das Herpesviru­s nur die Hauptursac­he. Parasiten, die Anfälligke­it des Immunsyste­ms sowie Verunreini­gungen kämen auch als Auslöser in Betracht. Die Forscher haben noch andere Probleme. Meeresschi­ldkröten legen viele tausend Kilometer zurück, sind jahrelang im Meer unterwegs. Eine Infektion kann jederzeit erfolgen, Symptome können jedoch erst sehr viel später auftreten.

Auslöser ist dann oft ein Stressfakt­or, wie Forscher vermuten. Stress kann für Meeresschi­ldkröten in Ufernähe auftreten, durch Wasservers­chmutzung und Futtermang­el – oft durch menschgema­chte Ursachen, auch durch die Folgen des Tourismus an den Küsten.

Einige der Schildkröt­en im Projeto Tamar dürfen bald wieder raus aus den Becken. Dann bekommen sie einen kleinen Chip und werden freigelass­en. Vielleicht können diese Tiere den Forschern helfen, die Tumorbildu­ng besser zu verstehen und bekämpfen zu können.

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FOTO: DPA Ein noch gesundes Exemplar: Eilig robbt eine Grüne Meeresschi­ldkröte vom Strand in Brasilien zurück ins Meer.

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