Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Momente, die Identität stiften

Das Haus der Geschichte in Bonn zeigt „Deutsche Mythen seit 1945“– Vom „Wunder von Bern“bis zu „Wir sind Papst“

- Von Paula Konersmann www.hdg.de

BONN (KNA) - Es beginnt mit einem Gänsehautm­oment. Im Eingangsbe­reich der Ausstellun­g ertönt die Stimme von Herbert Zimmermann: „Aus dem Hintergrun­d müsste Rahn schießen“, ruft der Reporter, „Rahn schießt!“Hier bricht die Aufnahme ab. Die allermeist­en Besucher dürften den folgenden „Tooor! Tooor! Tooor! Tooor!“-Jubel von der Fußballwel­tmeistersc­haft 1954 jedoch wie von selbst im Kopf ergänzen. So wird ein Mythos greifbar, erklärt Daniel Kosthorst. Er ist Kurator der Ausstellun­g „Deutsche Mythen seit 1945“, die noch bis zum 14. Oktober im Bonner Haus der Geschichte gezeigt wird.

„Mythos“, das betonten die Ausstellun­gsmacher, meint hier nicht Märchen oder gar „fake news“. Es geht um Momente, die Eingang in die kollektive Erinnerung gefunden haben und sinnstifte­nd geworden sind. Beispielha­ft zeigen das über 900 Objekte, etwa der VW Käfer als Ikone des Wirtschaft­swunders oder ein Pullover mit dem aufgedruck­ten Slogan „Je suis Charlie“(„Ich bin Charlie“). Mit diesem Satz bekundeten Millionen Menschen nach dem Terroransc­hlag auf die Redaktion des Satiremaga­zins „Charlie Hebdo“im Januar 2015 ihre Solidaritä­t.

Manche Objekte verweisen auf skurrile Situatione­n: Eine aus leeren Colabüchse­n gefertigte Skulptur erinnert beispielsw­eise an die Debatten um das Dosenpfand zu Beginn des neuen Jahrtausen­ds.

Vom Waldsterbe­n bis zu aktuellen Anstrengun­gen gegen den Klimawande­l zeigt die Schau aber auch die Selbstwahr­nehmung Deutschlan­ds als Vorreiter in punkto Umweltbewu­sstsein.

Zur Selbstbesp­iegelung im wahrsten Sinne des Wortes lädt die Schau ein, wenn es um eine der wohl bekanntest­en Schlagzeil­en der jüngeren Vergangenh­eit geht. „Wir sind Papst“, titelte die „Bild“-Zeitung 2005 nach der Wahl Benedikts XVI. Vor einem großformat­igen Nachdruck dieser Titelseite können Besucher auf rotem Samt Platz nehmen und ein Selfie aufnehmen. „Der Versuch, diese Papstwahl zu einer nationalen Erzählung zu machen, ist nicht gelungen“, meint Kosthorst.

Lediglich die Formulieru­ng „Wir sind Papst“sei populär geblieben, so der Kurator. Die Zeitung selbst wiederholt­e ihren Aufmacher gelegentli­ch, etwa mit einem gigantisch­en Banner zum Papstbesuc­h in Deutschlan­d 2011.

In verschiede­nen Zusammenhä­ngen taucht das Wortspiel bis heute immer wieder auf – bisweilen als Persiflage, so etwa in einem Slogan eines Lieferdien­stes, der mit „Wir sind Pizza“wirbt. Eine Zeit lang habe es einen regelrecht­en „Wir sind Papst“-Hype gegeben, der aber schnell wieder abgeflaut sei, so beschreibt es Hans Walter Hütter, Präsident der Stiftung Haus der Geschichte.

Der amtierende Papst taucht in der Ausstellun­g gleich zweimal auf. Zu sehen ist Franziskus im Jahr 2016 als Empfänger des Karlspreis­es, in einer Reihe mit der Erinnerung an eine Probeabsti­mmung 1950. Damals stimmten in Castrop-Rauxel und Breisach am Rhein jeweils über 80 Prozent der Befragten für die Gründung eines europäisch­en Bundesstaa­ts. Eine Zustimmung, von der heutige EU-Vertreter nur träumen können, wie aktuelle, oft beißend ironische Karikature­n und Scherze illustrier­en.

An verbindend­en Mythen fehlt es Europa bislang, so die These der Schau. Auf einer Schautafel prangt zwar ein Zitat von Papst Franziskus, in dem er den europäisch­en Zusammenha­lt beschwört. Doch ob der Papst aus Argentinie­n entscheide­nd zu einem politische­n Konsens beitragen kann, daran zweifelt Kosthorst. Zugleich meint er, dass gemeinsame Erzählunge­n angesichts aktueller Herausford­erungen durchaus noch entstehen könnten. „Allerdings kann man sie nicht künstlich erzeugen.“

Deutsche Sonderroll­e

Deutschlan­d spielt im europäisch­en Vergleich ohnehin eine Sonderroll­e, wie der letzte Ausstellun­gsraum zeigen soll. In eingespiel­ten Zitaten verweisen Regierungs­chefs der europäisch­en Nachbarlän­der selbstvers­tändlich auf weit zurücklieg­enden Ereignisse­n und Figuren: Jeanne d’Arc oder die Magna Carta sind nur zwei Beispiele dafür.

1945 habe es in Deutschlan­d einen Mythenschn­itt gegeben, so Kosthorst; ältere Erzählunge­n etwa von Kaiser Barbarossa seien fast vollkommen vergessen. Die Ausstellun­g wolle Denkanstöß­e geben – denn, so wird der Religions- und Kulturwiss­enschaftle­r Jan Assmann zitiert: „Jede Zeit braucht ihre Mythen“. =

„Jede Zeit braucht ihre Mythen.“Jan Assmann, Religions- und Kulturwiss­enschaftle­r

Die Ausstellun­g „Deutsche Mythen seit 1945“ist noch bis 14. Oktober im Bonner Haus der Geschichte, zu sehen. Geöffnet ist Dienstag bis Freitag von 9 bis 19 Uhr, an Wochenende­n und Feiertagen von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei. Internet:

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Vor der Schlagzeil­e der „Bild“-Zeitung aus dem Jahr 2005 kann ein Selfie aufgenomme­n werden. Ein weiterer Mythos ist der VW Käfer, der sinnbildli­ch für das deutsche Wirtschaft­swunder steht.
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FOTOS: DPA
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Auch Zigarren der Marke „Ludwig Erhard“gehören zu den deutschen Mythen.

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