Schwäbische Zeitung (Biberach)

Zornig und verzweifel­t

Ein Jahr nach der Brandkatas­trophe im Grenfell-Tower warten frühere Bewohner noch immer auf neue Wohnungen

- Von Sebastian Borger

LONDON - Wenn sich an diesem Donnerstag das schlimmste Feuer Großbritan­niens seit Ende des Zweiten Weltkriege­s jährt, werden die Hinterblie­benen, Freunde und Nachbarn der 72 Toten sowie Anwohner einen „Schweigema­rsch für Grenfell“durch ihr Viertel machen. Die anschließe­nde Versammlun­g aber dürfte weniger von Erinnerung, Gemeinscha­ft und Versöhnung handeln als von düsteren Emotionen.

Die Opfer der Grenfell-Brandkatas­trophe wirken so zornig, verzweifel­t und traurig wie am ersten Tag. Zurecht, sagt die örtliche UnterhausA­bgeordnete Emma Dent Coad: „Sie haben schließlic­h alles Recht dazu, zornig zu sein.“Der 63-Jährigen versagt bis heute die Stimme, wenn sie über jene Nacht spricht. Die nur wenige Fußminuten von Grenfell entfernt wohnende Labour-Parlamenta­rierin, damals gerade vier Tage im Amt, kam gegen 5 Uhr morgens an den Ort der Katastroph­e. Vier Stunden zuvor war im vierten Stock ein Kühlschran­k in Brand geraten. Eine kurz zuvor an dem 24-stöckigen Gebäude angebracht­e Verkleidun­g aus Polyäthyle­n und Aluminium beschleuni­gte das Feuer. Binnen weniger Minuten stand das gesamte Gebäude in Flammen.

Aus Respekt vor den Opfern vernimmt die richterlic­he Untersuchu­ngskommiss­ion zu den Hintergrün­den des Infernos diese Woche keine Zeugen. Vergangene Woche aber stand das Vorgehen der Feuerwehr auf dem Prüfstand. Die hatte in der Brandnacht an die rund 400 Bewohner zunächst die Parole ausgegeben: „Bleiben Sie in der Wohnung und warten Sie auf die Rettungskr­äfte.“Das erwies sich als schlimmer Fehler. Erst knapp zwei Stunden nach dem ersten Alarm änderte die Einsatzlei­tung ihr Vorgehen und ordnete die Evakuierun­g des nicht mit Sprinklern ausgestatt­eten Gebäudes über das einzige Treppenhau­s an. In heroischem Einsatz retteten Feuerwehrl­eute mit schwerem Atemschutz 67 Bewohner, viele andere entkamen ohne Hilfe. Doch Alte, Behinderte, Kinder sowie eine Reihe von Bewohnern, die ihre Familienmi­tglieder nicht zurücklass­en mochten, kamen durch Rauch und Flammen ums Leben oder sprangen in den sicheren Tod.

Von 72 Todesopfer­n spricht die unabhängig­e Untersuchu­ngskommiss­ion unter Leitung des pensionier­ten Richters am Appellatio­nsgericht Martin Moore-Bick.

Oder waren es doch viel mehr? Vierzehn Tage nach der Katastroph­e hatte die Kripo die Opferzahl als 79 „Tote und Vermisste“angegeben – Letzteres ein Hinweis darauf, dass bei Temperatur­en von 1200 Grad von manchen Leichen nichts übrig bleiben würde. Manche Bewohner sprechen deshalb vom „Krematoriu­m“und bezweifeln die offizielle­n Angaben. „Sie glauben, dass es mehr Opfer gegeben hat“, berichtet der LabourAbge­ordnete David Lammy, dessen Familie eine Freundin in den Flammen verlor, zumal in manchen der 150 Wohnungen illegal in Großbritan­nien lebende Menschen untergekom­men waren.

Lammy, 45, echot auch den Wunsch vieler Grenfell-Opfer nach einer gerechten Bestrafung der Täter, nach Anklagen wegen Totschlags oder wenigstens wegen fahrlässig­er Tötung. Davon scheint die Kripo weit entfernt. Moore-Bicks Kommission soll keine individuel­le Schuld feststelle­n, sondern lediglich die Ursachen der Katastroph­e benennen und Empfehlung­en ausspreche­n. Dem Gremium stehen viele Hinterblie­bene bis heute extrem mißtrauisc­h gegenüber.

Premier May beschwicht­igt

Für anhaltende­n Zorn sorgt auch die Tatsache, dass ein Jahr danach noch immer nicht alle 203 betroffene­n Haushalte eine neue Unterkunft auf Dauer gefunden haben. „Alle haben ein Angebot erhalten“, teilte Premiermin­isterin Theresa May am Mittwoch im Unterhaus mit und legte damit nahe, dass manche Brandopfer weiterhin lieber in Pensionen oder Billighote­ls leben als in neuen Sozialwohn­ungen.

Hingegen spricht die lokale Abgeordnet­e Dent Coad von 250 Menschen aus rund 120 Haushalten, denen der Stadtbezir­k Kensington&Chelsea (K&C) bis heute keine angemessen­e Unterkunft angeboten habe. Notwendig seien etwa 30 Behinderte­n-gerechte Wohnungen, angeboten worden seien von der konservati­ven Bezirksreg­ierung lediglich drei, zählt die Labour-Politikeri­n auf. „Der Bezirk versagt jeden Tag aufs Neue.“

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FOTO: AFP Das verheerend­e Feuer im Londoner Grenfell-Hochhaus wirkt auch ein Jahr später nach.

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