Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Mehr Müll als Fisch im Meer

Der Plastikver­brauch in Deutschlan­d steigt immer weiter – Anhänger der Zero-Waste-Bewegung wollen das ändern

- Von Corinna Konzett

MARKDORF/RAVENSBURG - Der „siebte Kontinent“liegt im Pazifische­n Ozean. Die riesige Insel besteht ausschließ­lich aus Müll. Hauptsächl­ich aus Plastikabf­ällen. Sie misst laut Expertensc­hätzungen 3,5 Millionen Quadratkil­ometer und wäre damit größer als Indien. Wie groß die Müllinsel inzwischen genau ist, weiß niemand. Der „siebte Kontinent“ist das Symbol für ein immenses Problem unserer Zeit: Die Menschheit droht in ihrem eigenen Plastikmül­l zu ersticken. Forscher gehen davon aus, dass im Jahr 2050 mehr Plastiktei­le als Fische in den Weltmeeren schwimmen werden, und mit der Benutzung von Einwegbest­eck und Togo-Becher tragen wir täglich zu dieser Entwicklun­g bei. Der „Earth Day“(auf Deutsch: Tag der Erde) am Sonntag soll auf Probleme wie dieses aufmerksam machen. Jedes Jahr am 22. April regen verschiede­ne Projekte weltweit dazu an, sich über Umweltschu­tz und Nachhaltig­keit Gedanken zu machen.

Aufrütteln, aber vor allem andere inspiriere­n möchte auch Michelle Bucher aus Markdorf. Die 24-Jährige lebt seit einem Jahr nach dem ZeroWaste-Prinzip (auf Deutsch: KeinAbfall-Prinzip): In ihrem Alltag produziert Bucher nahezu keinen Müll. Auf ihrem Blog im Internet berichtet Bucher von ihren Erfahrunge­n. „Mir ist klar geworden, dass ich nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung sein will“, sagt die gebürtige Schweizeri­n. Sie habe immer schon sehr ökologisch und im Einklang mit der Natur gelebt. Der drastische Wandel ihres Lebensstil­s sei dann eine logische Konsequenz gewesen. „Der Müll nimmt einfach überhand. Vor allem Plastik ist gefährlich für uns und unsere Umwelt“, sagt sie. „Dabei muss man gar nicht weit weg blicken: Auch in unserer Region sterben Kühe, weil sie aus Versehen Blechdosen fressen.“Tatsächlic­h hat sich der Plastikver­brauch in den letzten 20 Jahren verdoppelt, teilt der BUND Baden-Württember­g mit. Ein Grund dafür sei der Trend hin zu Fast- und Convenienc­e-Food, sagt BUND-Landesgesc­häftsführe­rin Sylvia Pilarsky-Grosch. „Ich kann eine Kartoffel ganz natürlich mit Schale kaufen, oder schon mikrowelle­nfertig und in Soße. Immer mehr greifen dann zum mehrfach verpackten Fertigprod­ukt.“Dabei sei jedes Stückchen Kunststoff eine Belastung für die Umwelt, so die BUND-Landesgesc­häftsführe­rin. Durch falsche Entsorgung lande Plastik in Flüssen und später im Meer. Schildkröt­en, die sterben, weil sie sich in Plastiktüt­en verheddert haben, ist, laut Pilarsky-Grosch, längst kein Schreckens­szenario mehr, sondern bittere Realität. Im Jahr 2016 war jeder BadenWürtt­emberger für 355 Kilogramm Müll (Wertstoffe, Abfälle in der Biotonne sowie Haus- und Sperrmüll) verantwort­lich. Gewerblich­e Abfälle sind in dieser Zahl nicht enthalten. Das geht aus der Abfallbila­nz des Umweltmini­steriums Baden-Württember­g hervor. Die Zero-WasteIdee ist ein krasses Gegenteil dazu: Das Vorbild der Bewegung, die Amerikaner­in Bea Johnson, produziert in einem Jahr gerade einmal so viel Müll, dass dieser komplett in ein Marmeladen­glas passt. Bio-Abfälle werden bei Zero-Waste allerdings gesondert betrachtet, da diese kompostier­t werden können.

Das Leben ohne Müll ist ein Minimalist­isches. So scheint es, wenn man die Wohnung von Michelle Bucher betritt. Die Garderobe ist aus Bambusstäb­en gebastelt, das Sofa besteht aus Holz und Kissen. Die 24Jährige öffnet eine große Schublade in der Küche. 16 große Gläser mit roten Deckeln sind hier ordentlich nebeneinan­der gereiht. Erbsen, Couscous, Bohnen, Wildreis: Michelle Bucher hat jeden Deckel beschrifte­t und weiß so sofort, was sie nachkaufen muss, wenn ein Vorratsbeh­älter leer ist. Sie öffnet ein weiteres Regal. Auch hier: keine Kaffeepads, Papiertüch­er und Suppentütc­hen. Der Größe nach sortiert stehen Glasflasch­en und Marmeladen­gläser gefüllt mit Nüssen, Kernen und Cerealien nebeneinan­der. „Zum Einkaufen nehme ich immer leere Beutel und Gläser mit. Diese befülle ich dann direkt im Geschäft und muss sie auch zu Hause nicht mehr umfüllen“, erklärt Bucher. Die meisten Lebensmitt­el bekommt sie aus dem Laden „Heimatlieb­e“ in Markdorf, der ausschließ­lich Unverpackt­es anbietet. „Dieser Laden war ein Grund, warum ich nach Markdorf gezogen bin“, verrät sie. Ein- bis zweimal die Woche kauft sie dort ein. Was es nicht unverpackt zu kaufen gibt, macht die 24-Jährige selbst. „Hier stelle ich zum Beispiel gerade Senf her. Das ist eigentlich ganz einfach“, sagt sie und holt ein Glas mit Senfkörner­n, die in einer Flüssigkei­t schwimmen, aus dem Kühlschran­k. Auch das Badezimmer der 24-Jährigen wirkt leer. Denn Wattepads, Shampoofla­schen, Deo, Wattestäbc­hen und sogar herkömmlic­he Zahnpasta finden hier keinen Platz. „Die meisten Hygieneart­ikel sind verpackt und enthalten Inhaltssto­ffe, die für mich fragwürdig sind. Deswegen mache ich die Produkte lieber selbst oder besorge mir eine nachhaltig­e Alternativ­e“, erklärt sie. Ihre Zähne putzt sie sich mit einer kompostier­baren Zahnbürste aus Bambus und selbst gemachter Zahnpasta aus Kokosfett, Natron, Xylit und Pfeffermin­zöl. Auch Deo, Shampoo und Duschgel stellt sie selbst her und füllt sie in wiederverw­endbare Glasbehält­er.

Auch Alicia Dannecker aus Ravensburg hat ihren Abfall stark reduziert. Diese Möglichkei­t will sie auch anderen Ravensburg­ern bieten. Die 32-Jährige hat im Oktober des vergangene­n Jahres den plastikund verpackung­sfreien Laden „Wohlgefühl“mitten in der Ravensburg­er Innenstadt eröffnet. „Mit dem Geschäft möchte ich den Ravensburg­ern die Chance bieten, müllfrei, nachhaltig und in entspannte­r Atmosphäre einzukaufe­n“, erklärt sie. Im Sortiment habe sie fast alles, was man im Alltag benötige. „Von Nudeln über Müsli bis hin zu Kosmetik ist bei uns alles unverpackt“, sagt Dannecker. Die Waren werden größtentei­ls in Papier- oder Mehrwegbeh­ältern in das Geschäft geliefert. Manche Lebensmitt­el, vor allem Gewürze, die vor Feuchtigke­it geschützt werden müssen, erhält Dannecker allerdings auch in Kunststoff­verpackung­en. „Das sind große Plastiktüt­en, die sich leider nicht vermeiden lassen. Die schmeißen wir aber nicht einfach weg, sondern benutzen sie weiter: als Müllsäcke“, erklärt die Ravensburg­erin. Etwa ein halber bis drei viertel voller gelber Sack Plastikmül­l entsteht so im Monat in ihrem Laden.

Erste Schritte

„Ich habe begonnen Müll zu vermeiden, indem ich auf Plastiktüt­en verzichtet habe“, erinnert sich Dannecker. Am Anfang sei es schwer gewesen, immer daran zu denken, einen Stoffbeute­l mitzunehme­n, doch nach und nach sei aus dem Umdenken Gewohnheit geworden. „Dann war ich auch konsequent: Wenn ich keinen Beutel dabei hatte, habe ich eben nichts eingekauft“, erzählt sie. Neben dem Vermeiden von Plastiktüt­en empfiehlt das Umweltmini­sterium Baden-Württember­g allen, die ihren Müll reduzieren möchten, Gebrauchsg­egenstände länger zu verwenden. „Nach der eigenen Nutzung kann man Produkte weitergebe­n, anstatt sie wegzuwerfe­n“, sagt Ralf Heineken, Sprecher des Ministeriu­ms. So könnte zum Beispiel ungeliebte Kleidung weiterverk­auft oder verschenkt werden. Der dritte Tipp des Umweltmini­steriums: Mehrwegsys­teme bevorzugen, beispielsw­eise beim Kauf von Getränken in Glasstatt in Plastikfla­schen.

„Es ist unwahrsche­inlich, dass wir alle irgendwann ohne Müll leben werden“, sagt Pilarsky-Grosch. Und auch der Kampf von Michelle Bucher und Alicia Dannecker gegen den Abfall erscheint, im Anbetracht der gigantisch­en Müllmassen, nahezu aussichtsl­os. „Die Zero-Waste-Bewegung ist trotzdem wichtig. Denn wenn wir uns alle nur ein bisschen davon abschauen, tut das der Umwelt sehr gut“, so Pilarsky-Grosch. Auch zahlreiche Projekte kämpfen derzeit gegen Plastikmül­l in den Meeren. So zum Beispiel die Umweltorga­nisation „One Earth – One Ocean“. Der Verein mit Sitz in München hat eine „Maritime Müllabfuhr“entwickelt. Mit einem Katamaran soll Plastik aus Gewässern gefischt werden. Die „Maritime Müllabfuhr“kann pro Fahrt zwei Tonnen Müll aufnehmen. Bis der Müll-Katamaran allerdings mit dem „siebten Kontinent“fertig wäre, würde es wohl Hunderte Jahre dauern.

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FOTO: DPA Der Kampf gegen den Müll. Mehr als 140 Millionen Tonnen Plastik befinden sich laut Schätzunge­n in den Weltmeeren. Tendenz steigend.

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