Weißt du es noch, schön war es doch!
Zeitgeschichte und Operettenzauber: Protagonisten der 68er in Berlin erinnern sich
● ass Personen und Ideen soziale Brisanz verloren haben, merkt man, wenn sie zum Gegenstand von Anekdoten werden. Das geschieht gerade mit der 68erBewegung. Ein neues Buch plaudert aus, was wir schon immer über 68 wissen wollten, aber nicht zu fragen wagten. Etwa, dass die Berliner Kommune K1 mit ihrem Ziel, die Kleinbürgerlichkeit auszurotten, sich beim Schweinsbraten-Essen am bairischen Kochelsee gegründet hat.
Oder dass Rudi Dutschke, die Ikone der Bewegung, die Milch aus den Kühlschränken der WG-Mitbewohner klaute. Oder der Berliner SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund), Zentralorgan der Bewegung: Nach endlosen Sitzungen gab’s Currywurst „beim Jugoslawen“und einen Italo-Western im Kino.
Den Eindruck davon, was die beiden Journalisten Michael Sontheimer und Peter Wensierski mit ihrem Buch wollen, geben die Innenseiten der Deckel. Da findet sich eine Berlinkarte, 56 Adressen sind mit Fähnchen markiert. Die erfahren dann eine liebevolle Beschreibung, für die man den aus der Zeit gefallenen Begriff des „Feuilletons“bemühen möchte: interessante, pointiert arrangierte, flotte Texte.
DZärtliche Rückblicke
Der Parcours startet im äußersten Westen mit dem Vorabend der Bewegung, dem 15. September 1965. Die Rolling Stones geben ein Konzert in der Waldbühne, die von einem harten Kern unter den Besuchern zerlegt wird. „Wir begannen mit unseren Cowboystiefeln auf die Bänke zu springen. Sie knackten sofort durch. So Hannibal, der später zu den Haschrebellen gehörte“, heißt es im Buch.
Hannibal, der Haschrebell, blickt unter seinem bürgerlichen Namen Kurt Lietsch 2012 im schönen Schöneberg zärtlich zurück. Das Interview liegt der Passage des Buches zugrunde. Ihr folgen Beispiele aus der Berichterstattung der Berliner Medien. Sie müssen das mangelnde Verständnis dokumentieren, das die junge Generation von der Presse erfuhr. Als Knaller wird Marianne Koch einund vorgeführt, die in der alten Bundesrepublik als Schauspielerin, Journalistin und Ärztin bekannt und mit der Rateshow „Was bin ich“populär war („Welches Schweinderl hätten Sie gern“). Sie war Berichterstatterin der „Bild“-Zeitung beim StonesKonzert. Und schrieb: „Ich kenne jetzt die Hölle“.
Die Stones, nicht als Kinder von Traurigkeit bekannt, brachen angesichts der Randale zu ihren Füßen nach drei Liedern ab und „ließen sich ins noble Schlosshotel Gerhus chauffieren“. Konzert und Logis hatte die Jugendzeitung „Bravo“(von Springer) organisiert. Dieses Schlosshotel, ließe sich ergänzen, war damals eine angesagte Location, wie man von einem anderen Ereignis weiß. Ein Jahr später steuerte Hitlers Rüstungsminister Albert Speer das Hotel im Grunewald direkt nach seiner Entlassung aus Moabit an, um sich in angemessenem Ambiente der – während seiner Gefängniszeit wiederhergestellten – Welt für neue Aufgaben zu empfehlen.
Opposition in der DDR
Dem Fähnchen im äußersten Osten fehlt solcher Glamour. Es ist Robert Havemanns Gartenhaus in Grünweide. Der Antifaschist, Sozialist und Wissenschaftler war zum prominentesten Regimekritiker der DDR geworden. 1977 belagerte ihn, Familie, Haus, Straße und vermutlich halb Grünweide die Stasi mit einem Aufgebot von 200 Mitarbeitern, die sich wechselweise als Ruderer, Pilzsammler oder Radfahrer kostümierten.
Der Zeitrahmen des Buches reicht von den Studentenunruhen der 1960er-Jahre bis zur Oppositionsbewegung in der ausgehenden DDR. Sontheimer und Wensierski haben dafür „die Protagonisten der politischen Gruppen“interviewt, nach 2009, viele erst 2017, also mit zeitlichem Abstand zu den Ereignissen. Ihre Auswahl der Stationen in Berlin nennen sie „subjektiv und unsystematisch, von Zufall und persönlichen Erinnerungen geprägt“. Der Titel des Buchs „Berlin – Stadt der Revolte“ist freundlich für eine Hauptstadt, die zwei Diktaturen nebst deren dienstbarem Personal beherbergte. Frühere Aufstände (1953, 1918, 1848) kommen ohnehin nicht in den Blick. Der gleichsam ungeschützte Begriff der Revolte hat hier, lebensmitteltechnisch gesprochen, die Funktion des Klebers bei der Formung eines deutsch-deutschen Erinnerungsschinkens.
Trügerische Erinnerungen
Das Buch hat den Anspruch, dafür die Quellen zu sichern. Da muss man dann doch tief Luft holen. Erinnerungen sind eine heikle Quelle. Von der Stuttgarter Historikerin Margarete Dürr, die zwei grandiose – weil methodisch reflektierte und organisierte – Bände mit Erinnerungen der Kriegsgeneration vorgelegt hat, stammt der Satz: „Der Zeitzeuge kann der Feind des Historikers werden.“Wofür die gezinkten Memoiren Albert Speers, die 1969 seiner Freilassung auf den Fuß folgten, das Musterbeispiel sind.
Falsche Fährten legt das RevoltenBuch sicher nicht aus. Aber den Autoren fällt auf, dass gerade die Erinnerung der Achtundsechziger einen Drall zur Nostalgie hat. Zeitgeschichte wechselt ins Operettenfach: „Weißt du es noch, schön war es doch.“Sontheimer und Wensierski schreiben im Vorwort: „Für viele, die wir befragt haben, gilt das Wort von Sigmund Freud: Eines Tages, zurückblickend auf die Jahre, wo du gekämpft hast, werden sie dir wie die schönsten vorkommen.“
Michael Sontheimer, Peter Wensierski: Berlin-Stadt der Revolte,
Chr. Links Verlag, 448 Seiten, 25 Euro.