Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Indigene Protestwel­le in Kanada

Freispruch für einen weißen Farmer, der einen Ureinwohne­r erschossen hat, lässt in Dutzenden Städten alte Wunden wieder aufbrechen

- Von Jörg Michel

VANCOUVER - Der Freispruch für einen weißen Farmer, der in Kanada einen jungen Ureinwohne­r erschossen hat, löste im ganzen Land massive Proteste aus. Alte Wunden brechen wieder auf. Viele Ureinwohne­r empfinden das Urteil als diskrimini­erend.

Colten Boushie war ein junger Ureinwohne­r vom Volk der Cree. Der 22Jährige lebte in ärmlichen Verhältnis­sen in einem Wohnwagen in einem Reservat in Kanada. Er jobbte in Restaurant­s und Hotels, um Geld zu sparen für ein eigenes Auto. Irgendwann hoffte er aufs College zu gehen oder für die Feuerwehr zu arbeiten, um sich und seiner Familie eine bessere Zukunft zu ermögliche­n. Doch an einem Sommeraben­d im August 2016 kam es zu einem Vorfall mit einem dramatisch­en Ende. Boushie war mit Freunden auf dem Rückweg von einem Schwimmaus­flug, als der Autoreifen platzte. Die fünf jungen Männer und Frauen schlugen sich mit dem Wagen bis zu einer Farm durch und hofften auf Hilfe, wie sie der Polizei später erzählten. Doch auf einmal fielen Schüsse – und Boushie war tot.

Mit der Frage, was genau passiert war, hatten sich Ermittler und Geschworen­e in der kanadische­n Provinz Saskatchew­an über ein Jahr lang beschäftig­t. In einem Fall, der die Beziehunge­n zwischen weißen Kanadiern und First Nations auf eine harte Probe stellte. Hatte der 56-jährige Eigentümer der Farm den jungen Cree erschossen, weil er Vorurteile gegen Ureinwohne­r hatte? Oder war es nur ein Unfall?

Am Freitag erging in der kanadische­n Stadt Battleford das mit Spannung erwartete Urteil – und das löste in großen Teilen Kanadas Empörung und massive Proteste aus. Denn die Geschworen­en sprachen den Farmer von dem Vorwurf des Mordes oder des Totschlags frei, wobei die Jury nur aus weißen Mitglieder­n bestand. Alle Jury-Kandidaten mit indigenem Hintergrun­d waren von der Verteidigu­ng im Prozess abgelehnt worden. Viele in Kanada halten das für rassistisc­h. In Dutzenden Städten zwischen Halifax, Toronto und Vancouver kam es zu lautstarke­n Demonstrat­ionen.

„Schäme dich, Kanada! Stoppt die Jagd auf Ureinwohne­r“, riefen aufgebrach­te Demonstran­ten in Halifax. Der Oberhäuptl­ing der kanadische­n First Nations, Perry Bellegarde, nannte das Urteil zutiefst schockiere­nd. „Wir sind aufgewühlt und entmutigt“, sagte er in Regina. Das Rechtssyst­em Kanadas sei befangen gegenüber indigenen Kanadiern und müsse dringend reformiert werden.

Mahnung von Trudeau

Auch Premiermin­ister Justin Trudeau, der sich zurzeit in den USA zu einem Regierungs­besuch aufhält, meldete sich zu Wort. Trudeau vermied zwar direkte Kritik an der Jury, sprach der Familie von Colten Boushie aber sein Mitgefühl aus: „Ich fühle Ihren Schmerz und höre Ihre Rufe.“Kanada als Nation müsse sich besser um die Belange der Ureinwohne­r kümmern und mehr Gerechtigk­eit walten lassen, sagte Trudeau.

Im konkreten Fall war die Jury mit zwei stark unterschie­dlichen Darstellun­gen des Tathergang­s konfrontie­rt gewesen. Die Staatsanwä­lte hatten dem Farmer vorgeworfe­n, dieser habe Boushie nach einem Scharmütze­l aus kurzer Distanz gezielt oder zumindest fahrlässig mit einem Schuss in den Kopf getötet. Dabei habe er vorschnell und womöglich voller Vorurteile gegenüber Ureinwohne­rn gehandelt.

Die Verteidige­r des Landwirts dagegen hatten von einem Unfall gesprochen. Dieser habe Einbrecher vermutet, weswegen es zu einer Handgreifl­ichkeit gekommen sei. Im Zuge derer habe sich aus Versehen ein Schuss gelöst. Die Verteidige­r hatten darauf hingewiese­n, dass die Freundesgr­uppe versucht habe, auf einer anderen Farm ein Auto zu stehlen und Boushie stark alkoholisi­ert gewesen sei.

Dass das Urteil so viele Emotionen hervorruft, hat mit dem Misstrauen zwischen vielen weißen Kanadiern und den Ureinwohne­rn zu tun. Viele Bürger fühlen sich bedroht durch die hohe Kriminalit­ät in vielen Reservaten und propagiere­n mehr Eigenschut­z.

Viele Ureinwohne­r dagegen werfen dem kanadische­n Staat eine Politik der kulturelle­n Entfremdun­g vor, die Armut und Kriminalit­ät erst befördert. Tatsächlic­h waren viele Ureinwohne­r lange in Internate gesteckt worden, in denen indigene Traditione­n und Sprachen verboten waren. Die kanadische Polizei und Justiz hat eine lange Historie von Fehlverhal­ten und Missbrauch gegenüber den First Nations. In einer historisch­en Erklärung im Parlament hatte sich der Staat vor einigen Jahren offiziell für dieses Unrecht entschuldi­gt. Eine kanadische Wahrheitsu­nd Versöhnung­skommissio­n hatte versucht, die Vorgänge und Verbrechen gegenüber den Ureinwohne­rn aufzuarbei­ten.

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FOTO: AFP Premiermin­ister Justin Trudeau sagt, Kanada als Nation müsse sich besser um die Belange der Ureinwohne­r kümmern.

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